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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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entziffern. Ihr Selbstvertrauen war abgeblättert, wie silberne Späne abgehobelt, zu Staub pulverisiert. Sie hatte die naive Leichtigkeit ihres Seins verloren, die nie hinterfragte Annahme, dass die Welt im Grunde ein guter Ort sei und sie darin ihre eigene glückliche Existenzberechtigung habe. Diese war ihr unbemerkt abhandengekommen, und dafür konnte sie nur noch sich selbst und ihrer eigenen jugendlichen Überheblichkeit die Schuld geben. Sie war bei ihrer Heirat in ihrem Hochmut so selbstsicher, so hoffnungslos selbstgefällig gewesen.
    Sie wollte nicht zu ihren Eltern zurück und ihre Niederlage eingestehen. Sie wollte nicht, dass Frieda recht behalten sollte. Sie wollte nicht die Frau sein, deren Ehemann bei einem peinlichen Techtelmechtel mit einer aufgeblasenen Nachbarin ertappt worden war, einer Frau, die ihr in Aussehen und Intellekt weit unterlegen war. Eine Frau, die ihr in Aussehen und Charakter so unähnlich war, dass Anne an sich und ihrer Anziehungskraft als Frau zu zweifeln begann. Sie wollte weiterhin an das glauben, was sie für selbstverständlich gehalten hatte. Und auf diesem Altar musste sie diese neue verstörende Einsicht opfern. Sie musste sie beiseiteschieben und so tun, als habe sie das alles nie gesehen. Denn vor allem und trotz allem wollte sie noch immer nur Charles. Auch wenn sie sich dafür hasste, die eigene Schwäche verachtete, wusste sie mit nicht zu überbietender Sicherheit, dass er der Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens war. Sie liebte ihn und würde ihn immer lieben, dafür in Kauf nehmen, zur Gefangenen der eigenen Gefühle zu werden. Sie konnte es sich selbst nicht erklären. Es gab etwas, das sie schicksalshaft an ihn band, sie magnetisch anzog.
    Niemand sagte ein Wort.
    Anne wandte sich ab und verließ die Küche. Das Rascheln ihres Kleides und das Klicken des Silberschmucks vermischten sich zu einem geisterhaft vibrierenden Geräusch. Sie nahm ihren Mantel von dem Berg Kleidungsstücke über dem Treppengeländer. Sie trat aus der Haustür ins Freie und ging die Straße entlang zu ihrem Haus.
    Und in diesem Moment kam die Bitterkeit, öffnete sich wie eine Wunde, die sich unaufhaltsam konzentrisch ausbreitete, ihr Bewusstsein trübte. Über die kommenden Wochen und Monate und Jahre erkannte Anne fortan, dass sie aufhörte, als eigenständiges Wesen zu existieren. Ihre Identität begann sich aufzulösen, in kleine Teile zu zerfallen, die lautlos in die Atmosphäre entwichen. Sie verlor sich, versank allmählich im Treibsand, wartete darauf, dass Charles zu ihr zurückkehrte, wartete, wartete und wartete auf die Bestätigung, doch von Beginn an recht gehabt zu haben.

Charlotte
    C harlotte hatte Gabriel einmal gestanden, nie aus Wut ihre Stimme gegen die Eltern erhoben zu haben. Sie sprachen über ganz andere Dinge, tranken starken Kaffee mit Milchschaum in einem Café in der Nähe ihrer Wohnung. Das kleine Restaurant war einen Tick zu schick, um richtig gut zu sein: Das Brot trug den Beinamen ›artisan‹, man saß an einem rustikalen Gemeinschaftstisch, einer Art Refektoriumstisch aus Eiche, und Gabriel fragte sie, wann sie das letzte Mal mit ihrer Familie Streit gehabt habe. Charlotte biss in ihren herzförmigen Butterkeks und dachte kurz nach. Über ihrer Nasenwurzel bildete sich eine schmale Falte.
    »Das ist nie vorgekommen, glaube ich.«
    Gabriel sah sie verblüfft an.
    »Wie bitte?«, fragte er ungläubig und ließ den Kaffeelöffel wirkungsvoll aus der Hand fallen. »Du musst doch mit deinen Eltern gestritten haben. Jeder hat Krach mit den Eltern.«
    Charlotte lachte. »Kann mich nicht erinnern, jemals laut gegen sie geworden zu sein.«
    »Du hast sie nie angebrüllt? Charlotte, Liebling …« Er nahm ihre Hand. Sie fühlte sich warm an wie frisch gebackenes Brot. »Da hast du ernsthaft ein Problem.«
    Aber es war die Wahrheit. Charlotte konnte sich nicht erinnern, jemals Anne oder Charles angebrüllt zu haben, selbst dann nicht, wenn sie, wie oft, wütend genug gewesen war. Sie erinnerte sich noch deutlich an das Gefühl aufgestauter Wut, aber nicht daran, sie jemals rausgelassen zu haben. Nie, kein einziges Mal hatte sie ausgeteilt.
    »Dabei raunzt du mich doch dauernd an«, sagte Gabriel und küsste ihre Fingerknöchel. In einem seiner Mundwinkel klebte ein Rest Milchschaum von seinem Cappuccino. Charlotte wischte ihn mit dem Zeigefinger weg.
    »Kleiner Schmutzfink.«
    »Ja«, seufzte er. »Ich bin ein Ferkel. Und ich habe eine schmutzige Fantasie.« Dann trat

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