Scherbenherz - Roman
und unterdrückte hohe, quietschende Laute. Sie fragte sich flüchtig, ob sich die beiden kleinen Kinder der Trenemans, Camilla und Timothy, in die Küche geschlichen hatten, um sich im Rahmen eines verbotenen Abenteuers über die Essensreste und die halb ausgetrunkenen Gläser Wein herzumachen. Anne musste bei diesem Gedanken unwillkürlich lächeln. Sie stieß die Tür auf.
Grelles Licht ergoss sich aus der Küche in den Flur, blendete sie vorübergehend, machte ihre Sinne im ersten Moment unempfindlich für das, was sich vor ihr abspielte. Sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück, um aus gebührender Distanz die Eindeutigkeit der Szene zu begreifen, deren Absurdität langsam gedanklich zu verarbeiten.
Die Szene, die sich ihr bot, bildeten zwei eng umschlungene Gestalten – ein Mann, mit dem Rücken zu Anne, und eine Frau. Die Frau lehnte halb sitzend, halb stehend an der Kante der Spüle, ihr blass purpurfarbener Angorapulli verrutscht, der knielange Rock schief und ziehharmonikaförmig über die Schenkel hochgeschoben, wo sich der Saum tief einschnitt. Die feisten Beine in den glänzenden hautfarbenen Strümpfen der Frau waren gespreizt. Der Mann stand eng an sie gepresst, hatte einen Arm um sie geschlungen, den anderen unter ihrem Rock. Die Frau kicherte immer wieder unterdrückt. Sie hatte die Augen in Erwartung hilfloser Lust geschlossen, die hellblaue Schminke auf ihren Lidern verschmiert. Der Mann lachte dabei kehlig, mahnte sie, leiser zu sein, bevor er zu stöhnen begann, leise zuerst, dann immer lauter, während sich seine Hand unter ihrem Rock beständig höher arbeitete. Sie wand sich unter seiner Berührung, zappelte unter seinem Gewicht, schien sich schließlich seiner Übermacht zu unterwerfen, bis ihr Gekicher in einer Tonleiter schriller, zirpender kleiner Schreie kumulierte.
Etliche Sekunden lang merkte das Paar nicht, dass es beobachtet wurde. Der Arm des Mannes bewegte sich unentwegt und rhythmisch. Die Frau keuchte geräuschvoll, ihre Wangen glänzten, ihr zerzaustes Haar geriet völlig aus der Fasson. Dann, mitten in einem spitzen Aufschrei, schlug die Frau die Augen auf. Ihre Züge entgleisten vor Entsetzen. Ihr Mund öffnete sich. Sie sah Anne an, die im Türrahmen stand, und wandte den Blick ab.
»Charles«, sagte die Frau, ohne dass der Arm des Mannes in seinen Bewegungen innegehalten hätte. »Charles«, wiederholte Cynthia, ihre Micky-Maus-Stimme ruhiger und erwachsener, als Anne sie je gehört hatte.
»Was denn?« Er hielt inne. Er trug sein Lieblingstweed-jackett, das mit den Lederflecken auf den Ellbogen, die Anne aufgenäht hatte, weil der Stoff dünn zu werden begann.
Sie starrte auf die vertraute Silhouette seiner Schultern, auf sein dichtes Haar, auf seinen Hinterkopf, seinen Nacken, all die Körperteile, die sie berührt und liebkost und von denen sie geglaubt hatte, sie wären allein ihr vorbehalten. Ihr Blick hatte eine solche Intensität, dass sie das Gefühl hatte, ihn damit berühren, ihn förmlich riechen zu können. Sie starrte au f ihn und wünschte, er würde wieder der sein, der er gewesen war, so wie sie ihn zuvor gesehen hatte. Sie starrte auf ihn und hoffte, ohne jede Hoffnung, nicht zu sehen, was sie sah. Und mit einem Mal dämmerte ihr, dass dies nicht wegdiskutiert werden konnte. Die Erkenntnis traf sie wie ein Stein, der in einen endlos tiefen Brunnen fiel, bis das Echo seines Aufpralls in ihrer Magengrube widerhallte.
Schließlich drehte er sich um und sah sie an. Sie registrierte das Blau seiner Augen, die Pupillen ohne jeden Ausdruck. Anne ging wortlos in die Mitte der Küche, ohne den Blick von den beiden zu wenden, die gefangen waren in ihrer lächerlichen Umarmung an der Spüle. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, während sie so dastand und die beiden betrachtete. Ihr Atem ging verstörend regelmäßig. Sie atmete ein und aus. Mit einem leisen Pfeifton entließ sie die verbrauchte Luft in den Raum, bis nur noch Taubheit zurückblieb.
Die Zeit schien für einen Moment stehen zu bleiben, und sie fragte sich, ob sie jetzt schreien, Cynthia ohrfeigen oder ein Glas gegen die Wand schleudern sollte, damit es wie ein Schrapnell in tausend Splitter zerschellte. Dann wurde ihr klar, dass sie nichts von alledem tun würde. Sie schluckte den Schrei hinunter. Sie ließ ihre Hand sinken. Sie unterdrückte den Impuls zu reagieren.
Sie hatte das Vertrauen in das eigene Urteilsvermögen verloren, in ihre Fähigkeit, eine Situation zu deuten, ihre Bedeutung zu
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