Scherbenherz - Roman
jedoch gleichzeitig behütet sein. Sie wünschte sich, die Mutter würde das Geschehene ansprechen, diejenige sein, die es als Erste laut aussprach.
Doch Anne stellte sich dieser Herausforderung nie, verlor kein einziges Wort darüber. Das Höchste der Gefühle, das Charlotte erwarten durfte, geschah ein paar Tage nach dem Vorfall, als Anne in Charlottes Zimmer trat, um ihr Gute Nacht zu sagen. Sie setzte sich auf die Bettkante, wirkte hypernervös, und war sich unsicher, ob sie die Tochter berühren sollte oder nicht.
»Möchtest du wissen, was ich tue, wenn etwas Schlimmes passiert?«, flüsterte sie in der Dunkelheit.
Charlotte nickte, die Augen geschlossen, als versuche sie zu schlafen.
»Ich denke zuerst darüber nach. Dann nehme ich im Geist einen Radiergummi und radiere alles aus. Anschließend nehme ich einen Malerpinsel und streiche mit roter Farbe darüber, damit ich nicht mehr die geringste Spur davon ansehen muss.«
Sie hielt kurz inne.
»Alles in Ordnung mit dir, Darling?«, fragte Anne und streckte zögernd die Hand aus, um eine Haarsträhne von Charlottes Wange zu streichen. Sie nickte schweigend.
»Du weißt, du kannst immer …« Anne verstummte. »Du kannst immer mit jemandem reden, wenn du möchtest. Ich meine mit jemandem außerhalb der Familie. Mit einem Fremden. Einem Therapeuten oder so. Falls du möchtest.«
Charlotte drehte sich zur Wand. Nach einigen Sekunden stand Anne auf, ging aus dem Zimmer und machte die Schlafzimmertür leise hinter sich zu.
Noch Jahre später fragte sich Charlotte, weshalb Anne sich der Wahrheit so entschieden verschlossen hatte. Liebte sie Charles zu sehr? Negierte sie deshalb, dass er überhaupt zu so etwas fähig wäre? Oder war sie sich seiner umfassenden, brutalen Macht bewusst und wollte sich das nur nicht eingestehen? War Anne über ihre eigene Verhaltensweise so entsetzt, dass sie sich einreden musste, es wäre nie geschehen? Und glaubte sie tatsächlich, das Beste zu tun? Glaubte sie, all die hässlichen Dinge würden in Charlottes Erinnerung wie von selbst getilgt, wenn man sie nur totschwieg?
Vielleicht war es für Anne schlicht einfacher, das Geschehene auszuradieren und es mit roter Farbe zu übertünchen.
Einfacher, sich abzuwenden, es in all den folgenden Wochen, Monaten und Jahren, wenn überhaupt, nur noch in kryptischen Anspielungen zu erwähnen?
Einfacher, weiter so zu tun als ob? Und war es schließlich und endlich nicht das, was sie alle immer schon taten?
Als Charles nach Hause zurückkehrte, ging das Theater, das Versteckspiel in gewohnter Manier weiter. Er tauchte eines Abends ohne Vorwarnung wieder auf, als sie beim Abendessen saßen. Er war braun gebrannt, sein Haar von der Sonne gebleicht. Er trug einen weißen Leinenanzug und einen Rucksack auf dem Rücken.
Charlotte sah von ihrem Teller Spaghetti nicht auf. Sie wartete, gespannt auf die geringste Veränderung der Atmosphäre, wollte abwarten, wie sich die Eltern verhielten, bevor sie sich auf eine Reaktion festlegte.
»Du bist zurück«, sagte Anne mit gespielter Heiterkeit.
So machen wir es also, dachte Charlotte. Wir machen weiter, als wäre nichts geschehen. Und obwohl sie für die Schwäche der Mutter nur Verachtung übrighatte, empfand sie dieses Verhalten in gewisser Hinsicht auch als befreiend. Immerhin wusste sie nun, wie man sich zu benehmen gedachte.
»Ja«, sagte Charles, entledigte sich des Rucksacks, öffnete den Reißverschluss und holte ein nur notdürftig eingewickeltes Päckchen hervor. Er legte es wortlos neben Charlottes Teller auf den Tisch.
»Ich gehe jetzt unter die Dusche, und dann wäre mir ein Abendessen recht.« Er verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.
Anne nickte hastig. »Sicher. Es ist noch Pasta übrig.«
»Gut. Eine hausgemachte Mahlzeit ist genau das, was ich jetzt brauche.«
Damit verließ er die Küche. Auf dem Weg nach oben nahm er zwei Stufen auf einmal, und der Widerhall seiner schweren Schritte drang durch die Decke bis in die Küche. Keiner sagte ein Wort, bis sie hörten, dass die Dusche angestellt wurde. Charlotte merkte, dass sie die ganze Zeit über die Luft angehalten hatte. Sie atmete leise aus, hoffte, so unauffällig wie möglich zu bleiben.
»Willst du es nicht aufmachen?«, fragte Anne und deutete auf das Päckchen neben ihrem Teller.
Charlotte legte die Gabel nieder, auf die sie gerade eine Portion Spaghetti aufgedreht hatte, schluckte, fühlte so etwas wie einen Kloß im Hals. Ihr Mund war trocken. Sie nahm
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