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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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das Päckchen. Es war notdürftig in altes Zeitungspapier eingeschlagen. Der Zeitungstext war in einer Sprache, die sie nicht verstand. Es konnte Spanisch oder Italienisch sein.
    Charlotte öffnete Geschenkpakete normalerweise besonders sorgfältig, zögerte jede Sekunde der Vorfreude genüsslich hinaus. Diesmal jedoch riss sie den losen, mit Klebeband befestigten Einband so hastig auf, dass ihre Finger schwarz von Druckerschwärze waren. Sie war selbst überrascht, wie aufgeregt sie war. Sie wusste nicht, ob es Wut war, weshalb ihr Herz so heftig gegen den Brustkorb schlug. Die letzte Lage Zeitungspapier fiel und lag zerknittert auf dem Tisch.
    Heraus kam ein Esel aus Stroh, auf dessen spitzen Ohren ein kesser roter Sombrero thronte. Der Esel starrte Charlotte aus seinen Glasaugen traurig an. Sie betrachtete ihn einige Augenblicke, dann stand sie auf, räumte ihren Teller ab und verließ wortlos die Küche.
    Später, als sie in ihr Zimmer kam, sah sie, dass jemand den Esel genommen und ihn in das Regal gegenüber ihrem Bett gestellt hatte. Dort stand er und sah sie unter der Krempe seines roten Hutes hindurch an, und sie entdeckte, dass sich jede ihrer Bewegungen in seinen blanken gläsernen Augen spiegelte. Unter diesem Blick, in dem ihr ihr eigenes Spiegelbild entgegensah, war ihr selbst unter der Decke unbehaglich zumute.

Anne
    D as Hotel lag in einem unauffälligen Gebäude in West Kensington, die abblätternde Fassade pockennarbig überzogen mit dem feinen Ruß der Auspuffgase. Geflieste Stufen führten zur Eingangstür unter einer blau-weiß gestreiften Markise. Hinter der Scheibe eines Erkerfensters stand das Schild »Zimmer frei«.
    Anne verglich die Hausnummer mit der Adresse auf dem Zettel in ihrer Hand. Beruhigt, die gesuchte Adresse gefunden zu haben, ging sie hinein. Das Teppichmuster im Erdgeschoss war ein bewegtes Meer aus Rot und Gold. Die Rezeption war unbesetzt. Anne schlug mit der flachen Hand auf die Klingel. Sie wartete einige Sekunden, spielte nervös mit dem Schulterriemen ihrer Tasche. Nach einer Weile hörte sie schlurfende Schritte. Hinter einem Paravent aus Milchglas tauchte ein grauhaariger Mann in Hausschuhen und offenem weißem Hemd auf. Er musterte Anne von Kopf bis Fuß mit lüsternem Grinsen. Sein Mund war leicht geöffnet, so dass sie seine dicke rote Zunge und eine Reihe gelber, unregelmäßiger Zähne im Unterkiefer erkennen konnte.
    »Ja?«, sagte er träge. Er räusperte sich. »Kann ich helfen?«
    »Ja. Der Name ist Cockburn.«
    Der Mann zog eine Halbbrille aus der Hemdtasche. Dann begann er quälend langsam mit einem schmuddeligen Finger eine handgeschriebene Namensliste im Gästebuch durchzugehen.
    »Mr. Cockburn?« Er grinste süffisant. Anne fühlte, wie sie rot wurde.
    »Richtig.«
    »Ist schon oben.« Der Mann schob den Schlüssel über die Theke, ohne seine Hand zurückziehen. Anne musste sie zwangsläufig streifen, um den Schlüssel aufzunehmen. Seine Haut fühlte sich faltig und klamm an. »Zweiter Stock«, sagte er und musterte sie erneut von Kopf bis Fuß. »Erste Tür rechts.«
    »Danke«, murmelte Anne mit zittriger Stimme. Sie ging hastig in Richtung Treppe, bevor sie es sich noch anders überlegen konnte.
    Das heimliche Treffen mit Marcus Cockburn hatte sie zwei Tage nach Charles’ Rückkehr aus seinem mysteriösen Urlaub arrangiert. Sie hatte Marcus zufällig bei ihrem Wocheneinkauf im Supermarkt in Richmond getroffen, wo sie nach den schrecklichen, geradezu surrealen Wochen Trost und Erholung in anspruchsloser Alltagsroutine gefunden hatte. Er hatte einen mit Einkäufen überladenen Drahtkorb mit sich herumgeschleppt, der so schwer zu sein schien, dass der arme Kerl kaum noch vernünftig gehen konnte. Er sah mitleiderregender aus als sonst. Anne hatte gehofft, seinen Blicken zu entgehen. Vergebens. Er hatte sie vor dem Brotregal entdeckt und sich so hastig, wie es ihm mit seiner Einkaufslast möglich war, zu ihr gesellt. Er erinnerte Anne dabei an jemanden, der unbedingt einen Bus erreichen wollte, jedoch nicht wagte, einen Sprint hinzulegen, um sich nicht lächerlich zu machen.
    »Anne«, begann er, und sie musste sich zwangsläufig umdrehen und höflich lächeln. »Komisch, dass wir uns ausgerechnet hier treffen.«
    »Ja«, antwortete sie. »Komisch.«
    »Muss nur schnell ein paar Dinge besorgen. Antonia hat ihre Tennisrunde aus dem Klub heute Abend zu Gast.«
    »Wie geht es Antonia?«, erkundigte sich Anne und merkte, das Marcus angesichts der

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