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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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uninteressiert klingenden Höflichkeitsfloskel stutzte.
    »Oh, gut. Ganz gut, weißt du.« Auf seiner Oberlippe standen kleine Schweißperlen. »Gut«, wiederholte er grundlos noch einmal. Nach einer Pause: »Hast du’s eilig, oder kann ich dich zu einem Drink verführen?«
    Obwohl sie hätte ablehnen sollen, sagte Anne einfach Ja. Zum ersten Mal, so merkte sie, suchte sie Marcus’ ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie genoss seine schlichten Komplimente, seine offene, unkomplizierte Bewunderung, die nichts von ihr forderte, sie zu keinerlei angestrengten Gefühlsäußerungen zwangen. Und sie wusste schon damals, wo es enden würde.
    In der Kneipe hatte Marcus sie unverwandt fixiert, während sie zwei doppelte Gin Tonic in schneller Folge geleert hatte. Die Jukebox spielte eine Nummer mit hämmerndem Rhythmus und wimmernden Gitarrenklängen. Nach einer Weile erkannte sie darin die Melodie aus einer Jeanswerbung im Fernsehen und erinnerte sich schließlich auch an den Refrain des Textes: »Should I stay or should I go now«, sang jemand in lässig schlepperndem amerikanischem Slang. »If I stay there will be trouble. And if I go there will be double.« Sie lächelte still in sich hinein, beschwipst genug, den Text direkt mit ihrer Situation in Beziehung zu setzen. Als sie mit den Fingern auf die Tischplatte trommelte, neigte sich Marcus so dicht zu ihr herüber, dass sie die feinen blutunterlaufenen Äderchen im Weiß seiner Augen sehen konnte.
    »Anne«, sagte er und legte eine zitternde Hand auf ihre Finger. »Wenn du je Hilfe brauchen solltest …« Marcus ließ den Gedanken in der Schwebe. »Du musst wissen, dass ich dich von jeher …«, er suchte nach den richtigen Worten, »sehr gemocht habe.« Er begann, sanft ihre Hand zu streicheln. Seine Finger fühlten sich schlaff und kühl auf ihrer Haut an. »Oh Anne«, murmelte er und sah sie aus glänzenden Augen flehentlich an. Er seufzte tief und schüttelte den Kopf, als müsse er den Überschwang seiner Gefühle vor ihr verbergen.
    Anne blickte ihn an. Seine ganze Verhaltensweise hatte etwas Melodramatisches und Unaufrichtiges. Er benahm sich wie ein Mann, der besessen von der Idee ist, verliebt zu sein, ein Dauer-Romantiker, der glaubt, für die ganz große Leidenschaft geschaffen zu sein, ohne sich seiner eigenen begrenzten Möglichkeiten bewusst zu sein. Sie hatte das Gefühl, er habe sie nur deshalb als das Objekt seiner Begierde auserwählt, weil sie unwiederbringlich in eine andere Beziehung eingebunden war. Genau das gestattete es Marcus, seine skurrilen Gefühlsanwandlungen auszuleben und anschließend zu seiner anspruchslosen Frau zurückkehren, die sich glücklich schätzte, ihn an Land gezogen zu haben. Bestärkt fühlte er sich dabei durch die Erkenntnis, dass ihre vermeintliche Affäre sowieso nie zustande kommen würde, da sie genau in seine sentimentale Vorstellung von zum Scheitern verurteilter schicksalhafter Liebe aus der Welt der Märchen passte.
    Sie war überzeugt, dass ein kleiner Teil von Marcus daran glaubte, dass Anne ihn trotz gegenteiliger Anzeichen liebte, es sie lediglich zu große Überwindung kostete, ihm ihre Gefühle einzugestehen.
    Tatsächlich allerdings empfand Anne ihn, benommen vom Alkohol, lediglich als widerwärtig: wegen seiner Scheinheiligkeit, des gedankenlosen Betrugs an seiner dummen Frau, seines traurigen Hundeblicks und seiner abwegigen Überzeugung, in ihm stecke ein Liebhaber geradezu literarischen Ausmaßes. Und trotz alledem hatte Anne das überwältigende Bedürfnis, von jemandem begehrt zu werden, der keine Bedrohung für sie darstellte.
    Seit jenem grauenvollen Morgen, als sie auf dem Rückweg von einer Kleidersammlung für das Rote Kreuz ganz unverhofft auf Charles und Charlotte im Wagen getroffen war, sann sie au f Rache. Au f Rache gegen Charles natürlich, aber auch auf Rache gegen sich selbst und ihre Schwäche, ihre Feigheit, ihre hoffnungslose Hörigkeit gegenüber einem Mann, der ein Monster war. Ihre Tatenlosigkeit machte sie krank, ihre Schuld fraß sie auf. Und dennoch brachte sie es nicht fertig, sich den Tatsachen offen zu stellen. Sie konnte den Anblick von Charlottes schmalem, bleichem Gesicht, ihren stummen, anklagenden Augen am Frühstücks-tisch kaum ertragen. Sie hatte getan, was sie für das Beste gehalten hatte: Sie hatte weitergemacht, als wäre nichts geschehen, sichergestellt, dass die tägliche Routine weiterging, hatte die Fassaden ihrer aller Gewissen blank geputzt und dafür gesorgt, dass

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