Scherbenherz - Roman
beobachtete, wie sie die Kreuzung an der Hauptstraße erreichte, kurz zögerte, bevor sie sich, ohne sich umzudrehen, nach links wandte. Charlotte war so geschockt, so verwirrt von alledem, das in nur wenigen Minuten geschehen war, dass sie länger als nötig brauchte, um die Autotür zu öffnen. Sie fummelte am Türgriff, an der Türsicherung herum. Charles, der erkannte, was sie vorhatte, versuchte sie zurückzuhalten.
»Charlotte, warte …«
Aber sie war bereits aus dem Wagen und draußen auf der Straße und rannte, rannte, rannte. Die Schuhe ihrer Schuluniform klapperten über den Asphalt, ihr Rock peitschte gegen ihre Beine. Sie rannte irgendwohin, überallhin und nirgendwohin zugleich. Sie rannte davon. Weg von hier. Weg von ihnen. Sie rannte fort, brachte sich in eine Sicherheit, die es nicht gab.
Normalerweise hasste sie Laufen. Ihr graute stets vor dem alljährlichen Sportfest der Schule, denn eine wohlmeinende Lehrerin oder ein wohlmeinender Lehrer zwangen sie stets teilzunehmen. Und Charlotte würde dann pflichtschuldig rennen, so schnell sie konnte. Doch schon bevor sie das Ziel erreicht hatte, stand fest, dass es nie schnell genug sein würde und ihre Mutter versuchen würde, ihre Enttäuschung hinter einer Art optimistischer Schicksalsergebenheit zu verbergen. An jenem Tag indes rannte sie, ohne die übliche hinderliche Atemnot oder wie sonst Seitenstechen zu spüren. Sie rannte, weil es gut war, etwas zu tun – irgendetwas – , das sie nicht zwang nachzudenken. Während sie rannte, wurde ihr Kopf frei. Der bloße Automatismus dieses Geschwindigkeitsrauschs blies jeden Gedanken aus ihrem Schädel und den Wind mit Macht in ihr Gesicht.
Sie fühlte, wie ihre Fußsohlen taub wurden und das empfindliche Fleisch über ihren Fußgelenken wund zu werden begann und schmerzte. Minutenlang nahm Charlotte die Umgebung überhaupt nicht wahr. Sie machte sich nicht klar, dass sie blindlings irgendwohin lief. Nach einer Weile registrierte sie allmählich, wo sie sich befand: Sie erkannte die Mauer, die Kew Gardens umgab, die kleine Weinhandlung, wo die Verkäuferin hinter der Theke Charles mit Namen kannte, die Esso-Tankstelle an der Kreuzung, und dahinter, nur wenige Meter entfernt, die Abbiegung in die Carlton Avenue.
Sie war nach Hause gelaufen, obwohl das der letzte Ort war, an den sie sich zurückwünschte. Vielleicht, überlegte sie niedergeschlagen, würde es niemals einen anderen Ort geben, der ihr Zuflucht bieten könnte. Es gab kein Entrinnen vor Charles und Anne und den bizarren Verwerfungen ihres gemeinsamen Lebens.
Sie beugte sich vor, stützte die Hände auf ihre Beine knapp unterhalb der Knie und rang keuchend und stoßweise nach Luft. Dunkle, feuchte Tropfen landeten in unregelmäßigen Abständen auf den grauen Bürgersteigplatten, und sie fragte sich kurz, ob es wohl regnete, bis ihr klar wurde, dass die Tropfen aus ihren Augen herabfielen, dass sie weinte. Charlotte zog den Ärmel ihres Schulpullovers über die Hand und wischte sich Tränen und Rotz aus dem Gesicht, die eine Schleimspur auf der hässlichen blauen Strickware hinterließen.
Obwohl sie weinte, war sie seltsamerweise nicht sonderlich traurig. Innerlich war sie auf unerklärliche Weise ruhig. Es kam ihr so vor, als sei der schlimmste Fall eingetreten und sie habe aus diesem Grund nichts mehr zu befürchten. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich irgendwie erwachsen. In diesem Moment beschloss sie, sich von diesem Vorfall nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Sie wollte ihnen auf keinen Fall zeigen, wie sehr sie sie verletzt hatten. Hinter dieser Maske und indem sie nach ihren eigenen Regeln damit umging, behielt sie die Kontrolle.
Nach einer Weile ging ihr Atem wieder regelmäßiger, und die Tränen waren versiegt. Ihr Gehirn war wie narkotisiert, und sie stellte fest, dass das absolut kein unangenehmes Gefühl war. Sie hatte sich so lange mit kryptischen Gedanken herumgeschlagen, dass sie es fast als Erleichterung empfand, dass diese Denkblase geplatzt, der innere Druck in ihrem Kopf entwichen war.
Sie ging die letzten Meter bis zu ihrer Haustür. Ihr Blick fiel auf den Türklopfer aus Messing und den Briefschlitz, das Metall stumpf und verwittert von den Jahren, und auf die Wurzeln des Rosskastanienbaumes, die die Platten der Terrasse anhoben, die Fläche stellenweise deformierten, so dass sie an die Schuppen über dem Rückgrat eines Dinosauriers erinnerte. Sie registrierte das alles wie bei einer Art mentalen
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