Scherbenherz - Roman
Bestandsaufnahme. Das Haus wirkte dadurch vertraut und hatte doch gleichzeitig nichts mehr mit ihrer Person zu tun.
Sie wusste, was zu tun war. Sie musste den Ersatzschlüssel unter dem Fußabstreifer hervorholen, ins Schloss stecken und die Tür öffnen. Sie wusste, dass sie wieder hineingehen und weitermachen musste wie zuvor. Sie hatte nicht vor, wie ein Kind zu weinen, sie würde keine Träne vergießen, keinen Trost brauchen: Sie würde unverletzlich, gegen alles immun werden. Sie wollte tief durchatmen, sich beschützen, zu einem besseren Menschen als die beiden werden. In diesem Moment war sie überzeugt, die beiden nicht zu brauchen. Sie würde ihre Tochter sein, das sicher noch, aber sie würden sie nie kennenlernen, nicht wirklich. Sie würden die düsteren Untiefen in ihrem Inneren nie verstehen. Der Hass in ihrem Herzen würde ihr die nötige Stärke verleihen. Ein undurchsichtiger Firnis würde die Wahrheit dessen verbergen, was darunterlag.
Damals konnte sie nicht ahnen, dass sich dieses Vorhaben als außerordentlich schwierig erweisen würde. Dass sie weiterhin die Liebe ihrer Eltern, ihre Bewunderung suchen, ihr Leben in der Hoffnung verbringen würde, ihnen ein Lächeln abzuringen. Sie war eben doch noch nur ein Kind.
Charlotte drehte den Schlüssel im Schloss. Die Tür war nicht verschlossen. Sie ging hinein und sah ihre Mutter. Sie saß am Ende des Flurs am Küchentisch, den Kopf in beide Hände gestützt. Und in diesem Augenblick war Charlotte klar, dass Anne alles gesehen hatte, und dass sie, Charlotte, ihr nie vergeben konnte.
Annes Kopf schnellte beim Geräusch der zufallenden Tür hoch. »Charlotte?«, rief sie mit klarer und ruhiger, unerschütterlich normaler Stimme.
»Ich gehe rauf«, sagte Charlotte tonlos. Sie lief geradewegs ins Badezimmer und schloss die Tür hinter sich ab. Dort steckte sie den Stöpsel in den Abfluss der Badewanne, drehte die Hähne auf und sah zu, wie der Wasserdampf sich über den Spiegelschrank über dem Waschbecken legte. Sie hielt die Hand in den heißen Strahl, bis die Hitze kaum noch zu ertragen war und ihre Haut zu verbrennen drohte. Es schmerzte allerdings weniger, als sie erwartet hatte, und das verschaffte ihr ein Gefühl von Macht.
Jahre später sollte sie sich fragen, warum er es an einem so öffentlichen Ort getan hatte. Nach Monaten der Vorsicht, dem diskreten Bemühen, ja nicht zu weit zu gehen. Nach all den Berührungen mit flinken Fingern, den verstohlenen Blicken, warum hatte er das riskiert? Hatte er seine Macht überschätzt? Glaubte er deshalb, nicht erwischt werden zu können? Oder war es einfach über ihn gekommen, hatte ihn seine übliche Selbstkontrolle im Stich gelassen? Wollte er vielleicht sogar entdeckt werden, um Anne zum Äußersten zu treiben, an einen Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab? Oder glaubte er letztendlich nicht, dass das, was er tat, falsch war? War es seine, wenn auch krankhafte Form der Liebe?
Eine ganze Woche lang blieb Charles verschwunden. Seine Abwesenheit wurde mit keinem Wort erwähnt. Charlotte und Anne lebten ihren Alltag nach der üblichen Routine und mit einer Präzision, die ihnen mit ihrer scheinbaren Normalität wie ein weiches, schützendes Ruhekissen vorkam. Sie erlebten eine seltsam friedliche Zeit. Die permanente Bedrohung durch Charles – die Gewitterwolken ständiger Verunsicherung und gespannter Erwartung hatten sich verzogen. Und Anne war so dankbar, nicht über das Geschehene sprechen zu müssen, dass sie Charlotte einen großen Freiraum gewährte, ihre Tochter tun und lassen konnte, was sie wollte. Sie durfte bis spät Sendungen im Fernsehen ansehen, die nicht kindgerecht waren, und am nächsten Tag zu Hause bleiben. Sie konnte vor dem Essen nach Herzenslust ihre Lieblingschips essen, ohne das Anne eingriff. Anne war in Charlottes Nähe viel zu nervös war, um ihr irgendetwas zu verbieten. Es war ein gutes Gefühl, plötzlich eine so untypisch nachsichtige Mutter zu haben. Es verschaffte Charlotte eine Art Erfolgserlebnis, den fragilen Glauben daran, dass sie alles auf einigermaßen leidenschaftslose, erwachsene Art bewältigt hatte. Und insgeheim hoffte sie, Anne mit ihrer »Reife« zu beeindrucken, während ein Teil in ihr wusste, dass sie, Charlotte, ohne eigenes Zutun zum dominanten Partner in der Mutter-Tochter-Beziehung geworden war. Dieses Wissen ängstigte und beglückte sie gleichermaßen. Sie mochte einerseits das Gefühl von Macht, das ihr diese neue Rolle verschaffte, wollte
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