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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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alle daran glaubten. Auf diese Weise hatte sie allmählich das Geschehene ausgeblendet. Wenn sie es nicht gesehen hatte, so lautete ihr Argument, existierte es nicht, konnte es nicht existieren.
    Aber der schöne Schein war dünn und der Lack bekam allmählich Risse. Sie musste feststellen, dass sie das dringende Bedürfnis hatte, sich zu verletzen, sich den körperlichen Schmerz zuzufügen, der ihren emotionalen Turbulenzen entsprach. Aus diesem Grund war sie bereit gewesen, sich mit Marcus an einem Wochentag zur Mittagszeit zu treffen: zu einem schmutzigen Rendezvous in einem schmierigen kleinen Hotel mit einem Besitzer, der Zimmer stundenweise vermietete. Sie sagte sich, dass sie mehr nicht wert sei. Seltsamerweise fühlte sie sich schon bei dieser Erkenntnis besser.
    Zimmer 225 roch nach abgestandenem Zigarettenrauch und dem Mief feuchter Wände. In einer Ecke war ein Fernsehapparat an die Wand montiert, und die bonbonrosafarbene Bettüberdecke war mit altersschlaffen Rüschen gesäumt. Markus saß in einem Schaumstoffsessel am Fenster und las Zeitung, als sie hereinkam. Er stand hastig auf, und die Zeitung glitt raschelnd zu Boden. Er sagte kein Wort, überquerte den braunen Flokati und presste die Lippen fest auf Annes Mund, bevor sie noch die Tür schließen konnte.
    Seine Lippen waren feucht, weich und wabbelig wie eine ausgeleierte Gummierung. Seine Zunge tauchte ein in ihre Kehle, wie ein fetter Aal, der sich gegen den Strom bewegte. Anne bekam keine Luft, bis er sie wieder freigab. Dann sah sie sein krankes Lächeln und den Speichel auf seinem Kinn.
    »Mein Darling«, sagte er, und diese Worte standen in einem so krassen Gegensatz zur Umgebung, dass Anne ihm am liebsten ins Gesicht gelacht hätte. Stattdessen begann sie, sich auszuziehen. Sie wollte die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen.
    »Nur keine Eile, Anne«, erklärte Marcus leise und versuchte sie davon abzuhalten, den Reißverschluss an ihrem Rock zu öffnen. »Wir haben den ganzen Nachmittag für uns.«
    »Ich aber nicht«, entgegnete sie tonlos. »Ich muss wieder nach Hause.«
    Er wirkte enttäuscht, begann jedoch seine Schuhe aufzubinden und stieg aus seiner Hose. Anne registrierte, dass er einen engen blauen Slip mit leicht fransigen Rändern trug, und dass seine dünnen Beine schwarz behaart waren. Anne entkleidete sich bis au f BH und Slip. Marcus trat hinter sie, schlang die Arme um ihre Taille und zog sie so fest an sich, dass sich seine Erektion in ihr Kreuz drückte. Sein Atem ging schnell und keuchend. Anne stieg bitterer, beißender Schweißgeruch in die Nase.
    Sie drehte sich zu ihm um und begann ihn so heftig zu küssen, dass ihre Zähne knirschten und sie fühlte, dass die Haut ihrer Mundwinkel zu reißen drohte. Sie hörte sein Stöhnen. Es klang wie das Knacken und Krachen eines Baumes vor dem Umfallen. Sie versuchte alles um sich herum und vor allem Marcus auszublenden, doch er entzog sich ihr immer wieder, sah sie immer wieder an, nahm ihr Gesicht in beide Hände und schüttelte befangen und verwundert den Kopf, so als könne er nicht recht glauben, dass sie wirklich hier und bei ihm war.
    Anne zog ihn zum Bett. Er begann ihren Nacken und ihre Schultern zu küssen, bevor er mit schlüpfriger Insistenz zu ihren Brüsten glitt. Sie fühlte seine Zähne an ihren Brustwarzen. Sie nahm wahr, dass seine Kopfhaut von oben betrachtet trocken und schuppig aussah und sich abgestorbene Hautpartikel auf seinem Scheitel gesammelt hatten. Eine Welle der Übelkeit stieg aus ihrem Magen auf, und sie schloss die Augen, stellte jedoch fest, dass sie ihn noch immer riechen konnte. Ein scharfer Dunst aus ungewaschenen Hemdkrägen und Gebratenem stieg ihr in die Nase.
    Er fühlte sich knochig und kraftlos an ihrem Körper an, und seine mageren Arme waren übersät von erhabenen Leberflecken. Er besaß weder Charles’ Kraft noch seine Macht. Anne fühlte sich von seiner planlosen, wirren Fummelei abgestoßen. Es kam ihr so vor, als habe er eine Gebrauchsanweisung gelesen, hielte sich jetzt sklavisch an jede Anleitung und erwarte, dass sie dankbar vor Hingabe stöhnte. Statt-dessen wollte sie lediglich von ihm genommen werden, so brutal wie möglich. Sie wollte, dass es schnell und emotionslos vonstattenging, eine unmoralische Vereinigung, die ihnen beiden lediglich Befriedigung und nicht mehr verschaffte. Sie wollte, dass er sie hart anfasste, sie dominierte, ihre Arme festhielt und sie zur Unterwerfung zwang. Sie wollte bestraft

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