Scherbenparadies
lassen. Wie kam er dazu, solche Fragen zu stellen? Nichts war in Ordnung. Alles wuchs ihr über den Kopf. Fiese Lügen wurden über sie verbreitet. Sie wurde gemobbt und Vanessa wurde immer stiller. Wahrscheinlich vermisste sie Laura und traute sich nicht, es zu sagen. Auch Sandra vermisste ihre Mutter. Nicht deren Liebe und Zuneigung oder gar Anerkennung. Darauf zu hoffen, hatte sie schon vor Jahren aufgegeben. Sie erhoffte sich von Laura Entlastung. Sie wollte endlich diesen Berg an Verantwortung loswerden. Aber konnte Laura ihn übernehmen? Vermutlich nicht. Ihre Mutter brauchte Hilfe und Sandra würde diejenige sein, die dafür sorgen müsste, dass Laura sie bekam. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag.
Joswig hielt mit ihr Schritt. »Du wirkst völlig erschöpft, als wärst du am Ende deiner Kräfte. Sandra, wenn du Hilfe brauchst oder jemanden, dem du dich anvertrauen kannst… Jetzt renn doch nicht so!« Er griff nach ihrem Arm. Sie wich ihm aus. Doch die Plastiksohlen der Chucks fanden keinen richtigen Halt auf dem matschigen Untergrund. Es zog ihr die Füße weg. Ehe sie sich versah, saß sie auf dem Gehweg. Benommen blieb sie einen Moment sitzen, spürte kalte Feuchtigkeit durch die Jeans dringen und rappelte sich auf. Wieder einmal schluckte sie Tränen herunter.
Joswig reichte ihr die Hand. »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken. Hast du dich verletzt?« Er zog sie einfach hoch, als wäre sie leicht wie eine Feder. Als sie wieder stand, war sein Gesicht nur einige Zentimeter von ihrem entfernt.
Diese Augen.
Mit einer Hand schob er ihr eine Haarsträhne von der Wange, mit der anderen hielt er sie an der Schulter umfasst. Für einen Augenblick war die Versuchung übermächtig, ihm zu erzählen, was los war. Er war anders als andere Lehrer. Vielleicht fiel ihm eine Lösung für ihre Probleme ein.
»Sandra? Alles okay?«
Sie machte sich los. »Ja. Klar. Morgen zieh ich wohl besser Stiefel an.«
Wieder sah er sie mit diesem Blick an, der ihr durch und durch ging und wohl sagen sollte: Wir reden hier nicht über passendes Schuhzeug. Ich will dir helfen. Warum lässt du mich nicht? Sie fühlte sich ertappt und erkannte gleichzeitig etwas anderes… Irritiert und beunruhigt wandte sie sich ab. »Also… ich muss jetzt los. Meine Schwester abholen… und danke, fürs Angebot… wenn ich… ich melde mich schon, wenn es nötig ist.« Sie ließ ihn einfach stehen.
14
Sie stand auf der anderen Straßenseite. Erstarrt, wie erfroren. Ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen. Ganz sicher. Sie spürte es nicht mehr. Und sie hörte auch nichts mehr. Nichts. Bis auf das Keuchen ihres Atems. Ein. Aus. Ein. Aus. Ein. Sandra. Nutte. Sandra. Bitch. Dreist. Peinlich. So was von peinlich. Ging einfach Nils nach. Verfolgte ihn. Passte ihn ab. Und schon wieder Schmierentheater. Diese blamable Show. Wie lange sie wohl dafür geübt hat? Und er hilft ihr auf. Hält ihr seine Hand hin. Und dann… es tat so weh. Ein heißer Schmerz durchfuhr sie. Er strich dieser Bitch eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Wie er sie dabei ansah!
Nils! Falsches Gesicht, mein Liebster. Erkennst du denn nicht, dass nur ich dich liebe. Ich! Ich! Ich!
Sandra, dieses Stück Dreck.
Sie musste sie loswerden!
Dieser Gedanke tat gut. Unendlich gut.
Sie war keine, die sich leidend in eine Ecke verkroch. Sie war eine, die etwas tat.
Am besten weiter dissen. Das mit dem Pinkelfoto hatte ja schon ganz gut geklappt, auch die Kotztüte war nicht schlecht gewesen. Sandra tat zwar cool, aber ihre Nerven lagen sichtbar blank. An dieser Schraube musste sie weiter drehen. Sie würde Sandra so fertigmachen, bis sie nur noch ein Nervenbündel war, bis jeder Tag zur Qual wurde, bis die Vorstellung, sich vor die U-Bahn zu werfen, verlockend wurde. So verlockend, dass sie es tat!
15
Vanessa saß weinend in der Aula. Ihr einziges Paar Handschuhe war weg, verloren oder geklaut, jedenfalls unauffindbar. Sandra suchte im Klassenzimmer, in der Garderobe und in der Schlamperkiste. Vergeblich. Vanessa brauchte neue.
Okay, dann ging das halt nicht anders. Der Rest vom Flohmarktgeld würde dafür draufgehen.
»Ich kaufe dir neue. Aber erst müssen wir heimgehen. Ich bin ausgerutscht und habe einen ganz nassen Po.«
Vanessa lachte, als sie Sandras feuchte Hose sah. »Die Leute denken bestimmt, du hast in die Hose gemacht.«
Diese Bemerkung traf Sandra mitten ins Herz. Scheiß Foto. Man sieht deine Muschi nicht. Wieder einmal hatte sie das Gefühl, jemand
Weitere Kostenlose Bücher