Scherbenparadies
drücke ihr die Kehle zu. Sandra, die Sau. Die ist eh voll eklig. Der Druck nahm weiter zu und quetschte alle Energie aus ihr heraus. Mit einem Mal war sie müde. Unendlich müde, fühlte sich wie leer gesogen, wie ausgekotzt, wie niedergetrampelt. »Na und! Komm, lass uns nach Hause gehen.«
Nachdem Vanessa Hausaufgaben gemacht hatte, besorgten sie im Einkaufszentrum neue Handschuhe. Damit war das Flohmarktgeld bis auf ein paar Cent ausgegeben. Vielleicht musste sie sich langsam mit dem Gedanken anfreunden, doch das Putzgeld in Lebensmittel zu investieren. Sandra sträubte sich gegen diesen Gedanken. Sie wollte mit nach Berlin. Unbedingt! Und dann wurde ihr auf einmal klar, dass sie auf keinen Fall mitkonnte, auch wenn sie das Geld irgendwann zusammenbekommen sollte. Wer würde sich denn um Vanessa kümmern?
Es gab ihr einen Stich. Weshalb hatte sie daran noch nicht gedacht? Und es gab noch einen anderen Grund: Ein paar sorglose Tage, Spaß haben, Quatsch machen… genau das würde nicht passieren, wenn sie mit nach Berlin fuh. Maja und Pat würden ständig über sie herziehen, sich lustig machen und sich wer weiß was einfallen lassen, um ihr weiter das Leben zur Hölle zu machen. Rund um die Uhr, vierundzwanzig Stunden am Tag. Die Aussicht daheimzubleiben, war plötzlich sogar verlockend. Irgendwie auch wegen Joswig. Sandra fuhr hoch. Hallo! Ging es noch? Was dachte sie denn da!
»Können wir zum Abendessen Spaghetti haben?«, unterbrach Vanessa ihre Gedanken.
»Mal sehen.« Sie hatte keine Ahnung, wie sie überhaupt irgendwas fürs Abendessen auftreiben sollte. Kaum war ein Problem gelöst, tauchten zwei neue auf. Würde das ewig so weitergehen? Sie konnte nicht mehr.
Seufzend stand sie auf und fasste einen Entschluss. Gestern hatte sie im Internet nach der Münchner Tafel gesucht und herausgefunden, dass jeden Montagnachmittag in Neuperlach Lebensmittel an Bedürftige verteilt wurden. Vor ein paar Tagen noch war ihr der Gedanke, Almosen anzunehmen, zuwider gewesen, doch nun erkannte sie, dass das eine Einstellung war, die sie sich nicht mehr leisten konnte.
Gemeinsam mit Vanessa suchte sie die Verteilstelle neben einer Kirche auf. Dort standen zwei Lieferwagen im Pfarrhof. Eine Frau und zwei Kinder kamen Sandra entgegen. Alle drei trugen gut gefüllte Plastiktüten. Ein alter Mann schlurfte um die Ecke. Auf dem Rücken einen Rucksack. Sandra schwante nichts Gutes. Vor den Lieferwagen stand ein langer Tisch, auf dem einige Salatblätter lagen. Sonst nichts. Sie war zu spät dran. Es war schon kurz nach fünf und die Mitarbeiter der Tafel packten ihre leeren Kisten ein.
»Suchst du jemanden?«
Sandra drehte sich um. Neben ihr stand eine Frau mit roter Dauerwelle und zahlreichen Lachfalten um Augen und Mund. Sie balancierte einen Stapel leerer Kartons. »Nein. Niemanden. Ich dachte…« Sandra sah zum abgeräumten Tisch hinüber. »Ich hab gehört, dass man hier Lebensmittel kostenlos bekommt, wenn man bedürftig ist.« So. Nun hatte sie mal klipp und klar gesagt, dass sie bedürftig waren, und es war gar nicht so schlimm, das auszusprechen.
»Leider bist du dafür heute zu spät dran. Hast du denn einen Ausweis? Ohne den geht nämlich nichts.«
»Was für einen Ausweis denn?«
»Wir unterstützen in München inzwischen über 18.000 Menschen wöchentlich und es werden immer mehr. Da müssen wir natürlich darauf achten, dass sich auch nur die Leute bei uns versorgen, die die Lebensmittel auch wirklich nötig haben. Ihr lebt von Hartz IV?«
Sandra nickte. »Meine Mutter, meine Schwester und ich.«
»Na, dann ist das doch gar kein Problem. Deine Mutter soll das nächste Mal mitkommen und ihren Ausweis und einen Nachweis mitbringen, dass ihr Hartz IV bezieht. Dann bekommt sie den Berechtigungsschein und kann auch gleich Lebensmittel mitnehmen.«
»Prima.« Eigentlich war das gar nicht prima, denn das bedeutete, dass Sandra irgendwie Lebensmittel für sechs Tage organisieren musste, bevor sie hier etwas umsonst kriegen würde.
Auf dem Heimweg rief sie Laura an. Natürlich ging wie immer nur die Mailbox ran. Sandra legte auf. Nicht in Vanessas Gegenwart!
Erst als Vanessa um neun im Bett lag und schlief, startete Sandra einen zweiten Versuch. »Hi. Sandra hier. Wenn du nicht willst, dass wir verhungern, dann solltest du nächsten Montag um zwei Uhr nachmittags an der Kirche erscheinen. Dort gibt es eine Verteilstation für kostenlose Lebensmittel. Die kriegt man aber nur, wenn man einen Hartz-IV-Bescheid
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