Scherbenparadies
Engel, der zum Himmel fliegt… Wer hatte ihr die SMS geschickt? Sie sah nach. Unbekannter Absender. Egal, wer immer das gewesen war, er hatte die richtigen Worte gefunden, wusste, wie sie sich fühlte, was los war, zeigte ihr einen Weg und meinte es gut mit ihr.
Ruhe. Stille. Frieden. Alles hinter sich lassen. Frei sein und ganz leicht… wie ein Engel, der zum Himmel fliegt. Allein diese Gedanken ließen sie ruhiger werden, vertrieben einen Teil des Schmerzes und der Kälte. Stark wie ein Engel, der zum Himmel fliegt. Dieses Bild zog sie magisch an.
Es war ganz leicht.
Sie kannte den Weg hinauf aufs Dach. Das Vorhängeschloss an der Tür war schon so oft geknackt worden, dass der Hausmeister es nicht mehr ersetzte.
Es war ganz einfach.
Sie musste nur durch diese Tür gehen. Die Nacht würde sie umfangen wie die Arme einer liebenden Mutter, die Lichter unter ihr würden ihr den Weg weisen und über ihr würde sich der Himmel spannen, dunkel und funkelnd, wie mit Diamanten besetzt. Sie musste nur die Arme ausbreiten und sich fallen lassen. Fallen, loslassen, schweben. Nicht länger stark sein müssen, schwach sein dürfen, ihr Schicksal in andere Hände geben. Sich einfach fallen lassen.
Es war ganz leicht.
Sie schlüpfte in die Jeansjacke, wickelte den Schal um den Hals und zog die Chucks an. Schmerz und Kälte in ihrem Innersten nahm sie nur noch gedämpft wahr, wie aus weiter Ferne, als hätte sie sich bereits ein wenig von ihrem Körper gelöst. Der Beginn eines Abschieds.
Sie zog die Tür hinter sich zu, ging zum Lift und drückte den Knopf für Aufwärts .
Ihr Kopf war erfüllt mit Musik. Auf Wiedersehen. Stark wie ein Baum, der in der Sonne steht, stark wie die Wolke, die vorüberzieht, stark wie ein Engel, der zum Himmel fliegt. Die Zeit steht still, die Erinnerung bleibt stehen. Wann werden wir uns wiedersehen?
Der Lift kam, jemand stieg aus. Sandra trat ein. Die Zeit steht still, die Erinnerung bleibt stehen.
»Sandra!«
Jemand rüttelte sie an der Schulter. Aus weiter Ferne stürzte sie zurück ins Heute. Ins Jetzt. Der Tränenpfropf hinter ihrem Brustbein drückte, als würde er jeden Moment den Knochen sprengen. Die Kälte war wieder da. Sie zitterte und fühlte sich wie erfroren. Die Musik in ihrem Kopf verstummte.
»Sandra!«
Joswig stand vor ihr! Ihr Herz raste. Was machte der denn hier? Sie wollte nicht hier sein. Wollte zurück. Die Türen schlossen sich. Joswig huschte gerade noch zu ihr herein. Der Lift setzte sich in Bewegung. Mit seinen Waldhonigaugen und diesem scheißbesorgten Blick sah er sie an. Plötzlich überlagerte Wut alle anderen Empfindungen.
»Zufall, oder, dass Sie mir ständig über den Weg laufen?«, fauchte sie ihn an. »Weshalb stalken Sie mich?«
Er trat einen Schritt zurück, hob beschwichtigend die Hände. »Ich will mit deiner Mutter sprechen. Das ist alles.«
Okay. Sie holte Luft. Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte gefüllt. Joswig wollte zu Laura. War ja eigentlich absehbar gewesen, dass er eines Tages hier aufkreuzen würde. Laura hatte ihn garantiert nicht zurückgerufen. »Sie ist nicht da.«
»Kein Problem, dann komme ich später wieder.«
»Später ist sie auch nicht da. Nach dem Kurs hilft sie einer Freundin bei irgendwas.«
»Gut. Wann ist sie denn da?«
Nie!, hätte Sandra am liebsten geschrien. »Schwer zu sagen. Rufen Sie sie an.« Noch immer war sie wütend. Dieses Gefühl von gerade eben… es war so unwirklich gewesen… so schön… so leicht, wie ein Traum.
»Das habe ich schon mehrfach. Sie ruft nie zurück. Sandra? Was ist los? Irgendwas stimmt nicht mit dir.«
Der Lift hielt. Die Türen öffneten sich. Sandra stieg aus und fand sich im Erdgeschoss wieder. Irritiert blieb sie stehen. Wieso das denn? Sie wollte doch nach oben… aufs Dach… stark wie ein Engel … Joswig. Mist! Gut, dass sie unten angekommen waren. Sie konnte doch nicht mit Joswig im Schlepptau aufs Dach… aufs Dach?… was wollte sie denn da? Doch nicht…
Sie hatte diese SMS bekommen… und die hatte sie toll gefunden… stark wie ein Engel, der zum Himmel fliegt… sie würde aber nicht fliegen… fallen würde sie, fallen… Das gibt nicht mal einen Fettfleck. Ein Keuchen stieg aus ihrer Kehle. Sie rang nach Luft. Raus. Sie musste hier raus. Panik stieg in ihr auf. Jede Zelle ihres Körpers zog sich zusammen, als sei sie in einen Eissturm geraten. Sie rannte auf die Eingangstür zu, riss sie auf und stürzte ins Freie. Die Straßenlaterne
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