Scherbenparadies
bist stark und leuchtest von innen. Wie machst du das?«
Warum musste sie lächeln? »Keine Ahnung. Ich bin noch dazu schrecklich patent. Das scheint Ihnen entgangen zu sein.«
»Ist es nicht.« Einer seiner Daumen erreichte ihren Mund. Unendlich langsam zeichnete er die Konturen nach. Wo vor Minuten noch eisige Kälte gesessen hatte, schlug ein glühender Meteorit ein. Jeder Quadratmillimeter ihrer Haut begann zu prickeln. Seine Hand in ihrem Haar. Seine Fingerkuppe auf ihrer Unterlippe. Sie schob die mahnenden Stimmen im Kopf beiseite und stellte das Denken ein. Ihre Lippen öffneten sich von ganz allein.
Seine waren weich und ein wenig kühl. Ein Hauch von Anis, eine Welle von Glückseligkeit. Und eine Leichtigkeit, wie sie sie schon lange nicht mehr gefühlt hatte. Sie küssten sich, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Und irgendwie war es das auch.
26
Sie hatte die Warterei zu Hause nicht länger ausgehalten. Sie wollte das jetzt wissen. Nein. Sehen. Mit eigenen Augen. Sie war in Jacke und Stiefel geschlüpft und hatte sich auf den Weg gemacht. In der Erwartung zuckender Blaulichter, die die Dunkelheit der anbrechenden Nacht zerhackten, bog sie um die Ecke. In ihrer Vorstellung sah sie Absperrbänder im Wind flattern, Polizisten umherlaufen, sah, wie der zerschmetterte Körper der Bitch in den Zinksarg gelegt wurde. Klappe zu. Sandra tot! Ich komme mit Rosen auf deine Beerdigung und tanze im roten Kleid auf deinem Grab!
Doch als sie endlich freie Sicht auf das Hochhaus hatte, war dort alles wie immer. Lichter brannten hinter den meisten Fenstern. Ein Typ mit einem Pitbull an der Leine ging hinein, gefolgt von jemandem, dessen Silhouette ihr irgendwie bekannt vorkam. Alle Härchen an ihren Armen stellten sich auf. Wie ein Stromschlag traf sie die Erkenntnis. Nils. Ein Stöhnen entfuhr ihrer Kehle, wie aus den Tiefen einer unterirdischen Höhle. Nein! Nein! Nein!
Panisch wischte sie sich über die Augen. Das war nicht Nils. Das konnte nicht Nils sein. Sie musste den Mann genauer sehen. Im Schutz der Dunkelheit rannte sie auf den Eingang zu.
Das war nicht Nils!
Konnte nicht Nils sein!
Sie schob die Tür auf und sah ihn gerade noch im Lift verschwinden.
Locken lugten unter der Strickmütze hervor. So sweet. Die breiten Schultern betont durch die Lederjacke. So hot! Sein kleiner Arsch steckte in Diesel-Jeans. So so so sexy. Ein schmerzhaftes Ziehen fuhr ihr in den Bauch.
Er besucht irgendwen.
Nicht Sandra.
Irgendwen.
Nicht sie. Diese Bitch. Diese Schlampe! Diese Fotze!
Doch, genau das tut er!, schrie eine innere Stimme. Benommen stolperte sie aus dem Haus, erbrach sich hinter einem kahlen Gestrüpp, würgte bittere Galle hoch, während ihr die Tränen über die Wangen liefen und Hass sich wie glühender, flüssiger Stahl in ihr ausbreitete, bis er jede Ader füllte, jede noch so kleine Zelle.
Als sie den Kopf wieder hob, erblickte sie Sandra. Sie rannte aus dem Haus, wie von Teufeln gejagt. Diese dreckige Nutte.
Nils hinter ihr her. Er lief ihr nach! Dieser Assitussi, die Müll fraß. Die so hässlich war wie die Nacht. So sexy wie ein Handfeger. So dumm wie Hundekacke!
In gebührendem Abstand folgte sie den beiden, bis in den Park. Hier, im Schutz der Dunkelheit, konnte sie sich näher anpirschen. Dennoch verstand sie kein Wort. Musste sie auch nicht. Was sie sah, genügte!
Der glühende Hass verwandelte sich in blitzenden Stahl, Abscheu und Ekel schmiedeten ihn zu einer blanken Waffe. Ihr Herz raste, aber ihr Verstand reagierte kühl. Eine unheimliche Ruhe erfasste sie. Eine Ruhe, der nur ein Sturm folgen konnte, ein Beben, ein Vulkanausbruch.
Echt prima, dass die beiden im Schein einer Laterne knutschten. Sie zog das Handy hervor, duckte sich tiefer in den Schatten der Sträucher und fotografierte.
Leise schlich sie sich davon.
Was sollte sie mit dem Foto tun? Sie konnte es bei Facebook posten. Sie konnte es aber auch gleich an die Schulleitung mailen. Oder besser noch an eine Zeitung. Sie konnte es tausendfach ausdrucken und die Schule damit zupflastern, das ganze Viertel. Sandra! Nutte! Schulschlampe verführt Lehrer! Geile Headline für die BILD.
Wie angewurzelt blieb sie stehen. Das ging nicht. Sie würden Nils zum Sündenbock machen. Lehrer missbraucht Schülerin. Missbrauch von Schutzbefohlenen war strafbar, sie hatte das gegoogelt. Nils würde hochkant von der Schule fliegen und vor Gericht landen. Sie würden ihn einsperren! Ihren süßen Nils.
Sie blickte den Lichtern
Weitere Kostenlose Bücher