Scherbenparadies
blendete. Sie blickte nach oben. Schwarze Dunkelheit wölbte sich über ihr. Sterne funkelten wie Diamanten. Sie marschierte los. Joswig holte sie ein. Schweigend ging er neben ihr her. Hochhausfassaden, Läden, Bushaltestellen, Mülltonnenhäuschen, Männer, Frauen, Kinder, Radler und Autos, alles wischte an ihr vorüber. War sie echt im Begriff gewesen, aufs Dach zu gehen und sich… Irgendwie hatte ihr Kopf das Denken eingestellt… wie ferngesteuert war sie zum Lift… Wenn Joswig nicht aufgetaucht wäre, dann läge sie jetzt vielleicht auf dem Pflaster vor dem Haus. Dann hätten Maja und Pat es geschafft! Sie biss sich auf die Lippen, um nicht zu schreien. Die Fußgängerampel sprang auf Grün, als sie sich näherte. Gut so, denn sie hatte das Gefühl, nicht anhalten zu können. Im Sturmschritt überquerte sie die Kreuzung und dann noch eine. Die Häuser lagen nun hinter ihr, vor ihr erstreckte sich der Park. Dunkle Silhouetten von Bäumen und Sträuchern. Kahle Äste, helle Wege. Ruhe. Der Kies knirschte unter ihren Schritten. Am Abendhimmel stieg der Mond empor. Irgendwo maunzte eine Katze. Ihr Atem fing sich kondensierend in der kalten Luft. Joswig ging noch immer neben ihr her.
Der Lärm ebbte ab. Von fern drang schwach das Brausen des Verkehrs in den stillen Park. Die Luft roch nach modernden Blättern und dem brackigen Wasser der Pfützen. Wem hatte sie so viel Macht über sich gegeben? Warum? Sandras Schritte wurden langsamer. Joswig schwieg. Der Weg wand sich durch die Grünanlage. Nach irgendeiner Kurve fing sie an zu sprechen. »Ich werde gemobbt. Das stimmt nicht mit mir.«
Joswig neben ihr atmete scharf ein. »Okay.« Er vergrub seine Hände in den Jackentaschen.
Im fahlen Licht sah sie seine Silhouette. Die Locken, eine gerade Nase, schön geschwungene Lippen, ein energisches Kinn.
»Weißt du, wer dahintersteckt?«
Nein. Mit Sicherheit wusste sie es nicht. »Maja vielleicht oder Pat. Oder beide zusammen. Oder irgendwer sonst.«
»Geht das schon lange?«
»Nö. Eigentlich nicht. Etwa zwei Wochen.«
»Schlimm?«
Sie konnte ihm das nicht erzählen. Oder doch? Es gab niemanden mehr, den sie sich noch zum Feind machen konnte. Alle dissten sie sowieso schon. Der Druck saß noch immer hinter ihrem Brustbein, ein Pfropfen ungeweinter Tränen. Im Schutze der Dämmerung war es leichter, das alles auszusprechen. Langsam begannen die Worte, aus ihr herauszutröpfeln. Das Foto, die Kommentare. Man sieht deine Muschi nicht. Das ließ sie aus. Die Kotztüte. Die Gerüchte, sie sei magersüchtig. Auch das mit ihrem Vater erzählte sie. Dass er ein Krimineller war, der seine Strafe schon vor Jahren abgesessen hatte. Vom Containern sagte sie nichts. Diese Fotos! Sie hat ihm einen geblasen . Auch das verschwieg sie. Es war so entsetzlich demütigend und beschämend.
»Hast du mal versucht, mit Pat und Maja zu reden?« Ein schwacher erdiger Duft ging von ihm aus. Er stieg Sandra irgendwie zu Kopf, war so beruhigend und besänftigend wie Joswigs Stimme.
»Klar. Hab ich.«
»Und wie haben sie darauf reagiert?«
Sie blieb stehen, starrte ihn an, ahnte seine Augen im Zwielicht. Der Druck in ihrem Inneren wuchs und wuchs. »Ich soll vom Hochhaus springen. Das gibt nicht mal einen Fettfleck!« Ihre Stimme war ihr fremd. Leise und spröde kamen die Worte aus ihrem Mund. Das gibt nicht mal einen Fettfleck. Sie sah Maja vor sich, die Tränen lachte.
»Was? Das haben sie gesagt!« Fassungslos sah Joswig sie an. In seinen Augen blitzte für eine Sekunde Wut auf, die sofort einem anderen Ausdruck wich, der irgendwie weich war und liebevoll, beinahe zärtlich. Ein paar Sekunden hielt er sie mit diesem Blick gefangen. Dann legte er einfach seine Arme um Sandra und zog sie an sich.
Er roch so gut. Irgendwie nach Erde und Gräsern. Seine Wärme vertrieb die Kälte in ihr. Der Pfropfen löste sich. Plötzlich flossen die Tränen. Sie vergrub ihren Kopf an seiner Schulter, schlang ihre Arme um seinen Körper und weinte. Halt mich ganz fest. Lass mich nie wieder los. Okay, irgendwie war das jetzt alles gerade ganz falsch. Sich noch mehr Probleme aufzuladen, war so überflüssig wie nur was. Aber es tat so gut. Seine Arme, die sie festhielten. Seine Stimme an ihrem Ohr. »Ich lass es nicht zu, dass sie dich fertigmachen. Du bist so…« Seine Hände strichen durch ihre Haare, sein Blick fand ihren. Mit den Daumen wischte er die Tränen weg. »Du bist… ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Wunderbar ist zu platt. Du
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