scherbenpark
jetzt völlig wertfrei, ein Versager. Er war es, weil er sich als einer fühlte. Hatte seit zwölf Jahren Germanistik studiert und sich dabei immer weiter von einem eventuellen Abschluss entfernt, wechselte regelmäßig Jobs, weil er für kaum was genug Biss hatte. Hatte, wie bereits erwähnt, selbst für hiesige Verhältnisse eindeutig zu lang bei den Eltern gewohnt. Sprach leise und, wenn verunsichert (also fast immer), so schnell und undeutlich, dass man nachfragen musste. Das hat ihn dann völlig verschreckt, und er fing an zu stottern.
Früher hätte ich nie geglaubt, dass ein Deutscher Mann so sein kann. So mild, so hilflos und selbstlos. Ohne Geld, aber großzügig. Ohne Führerschein, aber mit einem klapprigen Damenfahrrad. In kariertem Hemd und mit einem Topfhaarschnitt, jedenfalls, bis er mich kennenlernte.
Die große Liebe meiner Mutter.
Ich habe niemals sie oder ihn Danach gefragt, aber ich bin mir sicher – sie war Harrys Erste, höchstens seine zweite Frau gewesen. Er war sieben Jahre jünger undhatte für zweihundert Jahre weniger Erfahrung. Welche Frau hätte sich schon bei klarem Verstand und vollem Bewusstsein mit diesem Ausbund an Hilflosigkeit eingelassen? Meine Mutter, sonst keine. Ich konnte mir jedenfalls so einen an meiner Seite nicht vorstellen.
Aber ich konnte verstehen, warum meine Mutter so begeistert von ihm war.
Er war das genaue Gegenteil von Vadim, der, als er endlich ausgezogen war, zweieinhalb Nervenbündel zurückgelassen hatte. Meine Mutter, Anton und ein bisschen Alissa. Ich war kein Nervenbündel, ich war ein Knäuel Hass. Nach der Scheidung hatte meine Mutter eine Flasche Sekt aufgemacht und mit mir angestoßen – ihre Hand hat gezittert, und sie hatte Tränen in den Augen.
»Ich bin glücklich«, hat sie gesagt. »Jetzt kann es losgehen mit dem Leben.« Und das Leben ging los und stieß sie mit Harry zusammen. Sie traf ihn in der Redaktion des kleinen Anzeigenblättchens, indem sie eine Rubrik für Russlanddeutsche führte. Darin schrieb sie, dass man in der Stadtbücherei auch russische Bücher ausleihen kann, dass dort immer donnerstags Märchen vorgelesen werden und dass man für ganz wenig Geld bei einem Turnverein mitmachen kann. Sie machte das mit sehr viel Ernst und Hingabe. Sie half gern anderen, die noch weniger wussten und konnten als sie. Sie gab in der Zeitung unsere Telefonnummer für Rückfragen an – und das Telefon klingelte oft.
Meine Mutter war sehr stolz auf diese Aufgabe. In der Zeitung erschien ein kleines Foto von ihr, und sie konnte sich bis zuletzt nicht daran gewöhnen, ihr Gesichtund ihren Namen abgedruckt zu sehen. Dass die Zeitung eine Auflage von 5.000 Exemplaren hatte und überwiegend aus Anzeigen für Sanitätstechnik und Biergärten bestand, störte Meine Mutter nicht. Sie saß stundenlang an ihren Artikeln und feilte an den Formulierungen, bevor ich Korrektur las und alles noch einmal änderte.
Harry kam ebenfalls als freier Mitarbeiter zu der Zeitung. Das war sein neuer Job, nachdem er gerade als Kellner kläglich versagt hatte. Das Anzeigenblättchen zahlte ungefähr 10 Cent pro Zeile, dafür schreibt kein Mensch, der etwas auf sich hält. Vor Harry und meiner Mutter taten es nur Funktionäre von Sportvereinen, die Berichte über Jahresendhauptversammlungen verfassten und für eine Veröffentlichung auch selbst bezahlt hätten.
Ich denke darüber nach, während ich an der Pforte von Ingrid und Hans klingele. Es dauert, bis die Tür aufgeht und Ingrid herauskommt und hilflos blinzelt, geblendet von der Sonne.
»Sascha?« sagt sie, als sie endlich auf die Idee kommt, sich mit der Hand abzuschirmen, und mich erkennt. »Das ist ja eine wunderschöne Überraschung. Komm rein, Kindchen.«
Ich laufe über die mit Moos bewachsenen Pflastersteine, die zur Eingangstür führen. Ich hatte meinen Besuch vor einer Woche angekündigt. Ingrid hat es vergessen, aber sie ist sowieso immer zu Hause.
Sie umarmt mich und hält mich lange an sich gedrückt, bis mir der Rücken schmerzt. Sie ist klein, und ich stehe ganz schief.
Als sie mich loslässt, sehe ich in ihrem Gesicht, dass sie einen Weinkrampf zu unterdrücken versucht, was ihr nicht gelingt. Ich schaue nicht weg. Ich bin müde und abgestumpft. Ich weine nicht. Ich verstehe auch nicht, was Ingrid davon hat.
»Hans wird sich freuen«, flüstert sie. »Wie lieb von dir, uns mal wieder zu besuchen.«
Sie kocht schnell Kaffee und deckt den Tisch im Wohnzimmer. Ich habe inzwischen Routine
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