scherbenpark
Alilein ein Diplom hat«, sagt sie schließlich, »dann bin ich auch schon mal ganz glücklich.«
»Diplom« ist für sie ein magisches Wort – wie Kapitalertragssteuer oder Paracetamol.
Für Alissa würde sie sterben. Das bedeutet nicht, dass sie etwas gegen Anton hat. Sie versucht regelmäßig, auch dieses Waisenkindchen zu kosen, aber Anton lässt keine Berührungen zu. Er geht dann einfach einen Schritt zurück, so lange, bis er die Wand im Rücken hat. Dann kapiert auch Maria, dass sie die Hände von ihm lassen soll. Vor ein paar Monaten habe ich allerdings beobachtet, wie er Maria in der Küche von der Schule erzählte. Maria saß am Tisch, stützte das Kinn auf die Hand und wackelte staunend mit dem Kopf.
Vor mir hat Maria Angst, und das hat seine Vorteile.
Maria sieht viele Gründe, mich zu verehren. Ich kann nicht nur Latein und Französisch, was für sie ebenso Lebensnah ist wie das ABC der Marsianer, sondern auch, völlig real, die Sprache dieses verflixten Landes. Ich erkläre ihr die hiesige Welt und begleite sie zu Einkäufen, bei denen ein Dolmetscher notwendig ist. Ich weiß, wie man Sozialhilfe beantragt und wie Kindergeld. Meistens bin ich dabei, wenn das Jugendamt auf Visite geht. Ich lobe Maria immer in den höchsten Tönen. Wenn ich eine Frage an sie übersetzen muss, überlege ich mir auch gleich die Antwort dazu.
Maria hat panische Angst vor allem, was mit Behörden zu tun hat. Vor jedem, der staatliche Autoritätausstrahlt, fühlt sie sich klein wie eine Ameise. Selbst den Fahrkartenautomaten siezt sie, und wenn im Bus tatsächlich kontrolliert wird, zerrt sie die Karte mit einem demütigen Lächeln so hastig aus ihrer Handtasche, dass ihr Lippenstift und ihre Tampons wie Geschosse durch die Gegend fliegen.
»Immer mit der Ruhe, Maria«, zische ich, wenn ich zufällig dabei bin, und krieche auf dem Fußboden herum, um die Utensilien einzusammeln, während die gelähmte Maria dem Kontrolleur in den Rücken strahlt.
»Ich hätte nie gedacht, dass das einer ist«, flüstert sie ehrfürchtig. »Mit langen Haaren und einem Ohrring wie so ein Beatles. Wie sie hier rumlaufen dürfen. Was hat er da aus dem Ohr hängen?«
»Einen mp3-Player«, erkläre ich.
»Was?«
»Musik.«
»Ich glaube, du wirst mal wie deine Mutter«, sagt Maria einmal in einem solchen Moment.
»Was?!«
Sie schlägt sich die Hände vor den Mund. Sie beginnt zu zittern, unter der geblümten Bluse bebt ihr aufgedunsener Körper, in den Augen steht der Schreck, über die Wangen rollen zwei Tränen, oder ist das der Schweiß?
»Was hast du gesagt?!«
»Nichts, nichts«, flüstert sie. »Nichts, nichts.«
Ich hebe die Hand. Ich weiß nicht, was ich tun will. Meine Finger schließen sich zur Faust, aber Maria zu schlagen kommt mir ebenso unsinnig vor wie einenPudding auszupeitschen, und ich lasse die Faust gegen die Fensterscheibe knallen.
Keiner dreht sich nach mir um. Nicht mal der Busfahrer, der sonst jeden anbrüllt, der die Füße auf den Sitz legt.
Das Fenster bleibt heil, aber mir tut es weh, und ich heule.
Dann habe ich meine Nase gegen Marias Busen gedrückt und kriege keine Luft. Sie hält mich mit beiden Armen fest und streichelt gleichzeitig meinen Kopf und meinen Rücken. Die Hände fühlen sich warm und sehr groß an.
Ich schließe die Augen.
»Alles gut«, flüstert Maria, während meine Lungen mit ihrem Parfum volllaufen. »Alles wird gut, alles ist gut, nicht weinen, meine Goldene, mein starkes Mädchen.«
»Halt den Mund«, schreie ich, aber es kommt nur gestöhnt daher, und Maria verstummt.
Danach steigen wir in der Stadtmitte aus und tauschen die Armbanduhr um, die Maria vor zwei Tagen für 4,95 Euro gekauft hat und die seit gestern nicht mehr geht.
Anschließend kaufe ich für Maria eine Fahrkarte für den Rückweg und warte, bis sie in den Bus geklettert ist.
Ich komme nicht mit. Ich steige in die Straßenbahn, ohne Fahrkarte, denn ich habe keine Angst vor Kontrolleuren, und besuche Ingrid und Hans.
Es tut mir weh, ihr Haus zu betreten. Den Grund würde ich ihnen nicht erklären können – beziehungs-weise wollen. Es ist ein schönes zweistöckiges Haus inmitten eines verwilderten Gartens, und allein das macht es liebenswürdig.
Der wirkliche Grund ist, dass meine Mutter dieses Haus und diesen Garten so gemocht hat. Sie war mehrmals zu Besuch da gewesen, und als Ingrid und Hans für vier Wochen auf Kur waren, hat sie zusammen mit Harry das Haus gehütet. Das bedeutete, dass wir alle
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