scherbenpark
ich ihr auch gleich sagen können. Denn in Nowosibirsk konnte sie mit jedem schwätzen und hat es auch getan, und hier ist sie meist zum Stummsein verdammt.
Maria kann nach fast zwei Jahren ungefähr zwanzig Deutsche Wörter, solche wie Bus, Kartoffel, Butter, Müll, kochen, waschen, fick dich (für die schwarz gelockten Heranwachsenden, die ihr manchmal auf der Straße hinterherpfeifen und beängstigende Gesten machen). Diese Vokabeln gruppiert sie gelegentlich zu Sätzen. Meistens geht das schief.
Wenn sie nicht gerade im russischen Supermarkt einkauft, muss sie mit dem Finger zeigen und die Zahlen aufschreiben. Zu diesem Zweck trägt sie immer einen Notizblock bei sich. Nach jedem Einkauf beim Aldi ist sie schweißgebadet. Wenn sie auf der Straße angesprochen wird, wimmert sie und kriegt rote Flecken im Gesicht. Den Satz »Ich spreche nur Russisch« habe ich zwei Wochen mit ihr geübt. Den trägt sie auf einem Papierchen in ihrem Portemonnaie, transkribiert in kyrillische Buchstaben.
Wir bekommen regelmäßig Besuch von den Doppelnamen vom Jugendamt. Maria kriegt jedes Mal Panik, und ich muss sie vorher und hinterher lange trösten, dass sie ihre Sache gut macht und nicht zurück an ihre Kantinentöpfe muss.
Denn, so kreuzunglücklich sie sich im Solitär auch fühlt, nach Nowosibirsk will sie auf keinen Fall, schon gar nicht mit Zwang. Sie träumt zwar davon, irgendwannzurückzukehren, später, mit einer Taille, dezent geschminkt, mit einem Koffer voller schicker Klamotten und idealerweise untergehakt bei einem Deutschen mit akkuratem Schnurrbart. Nett und reich soll er sein und vor allem Russisch können, denn dieses Deutsch, sagt Maria, ist schlimmer als Chinesisch (als ob sie das könnte).
Wenn ich Hausaufgaben mache, seufzt sie manchmal hinter meinem Rücken und kommentiert: »Lernen ist wichtig, lernen ist gut. Ich habe früher nie gelernt und immer gearbeitet. Schon als Kind. Und jetzt guck mich mal an. Hat sich die Plackerei gelohnt?«
»Lies was, Spätzchen«, sage ich. »Muss ja nicht gleich ›Krieg und Frieden‹ sein. Versuch's doch mal mit einem Krimi.«
»Ich bin abends immer so müde, meine Sonne«, sagt sie. »Wenn ich ein bisschen gelesen habe, vergesse ich sofort, was drinsteht, und muss von vorn anfangen. Das strengt mich so an.«
Deswegen liest sie jeden Tag ein Blatt vom Abreißkalender »Für die orthodoxe Hausfrau«, wo mal ein Rezept draufsteht und mal ein Tipp zum schnelleren Abnehmen und gelegentlich ein Witz, und das genügt ihr. Da verdrehe ich die Augen, aber so, dass sie das nicht sieht. Denn sie kann wirklich nichts dafür, dass sie von Anfang an zu wenig Synapsen abgekriegt hat und zwei Drittel davon noch in ihrer Fabrikkantine verloren gingen.
Ich mache mir nur ein bisschen Sorgen wegen Alissa. Zwar ist Maria meiner knapp vierjährigen Schwester intellektuell noch etwas überlegen, aber das wird sichin absehbarer Zeit ändern. Ich habe Vorlesestunden als Pflichttermin in Marias Tagesplan eingeführt. »Ich hab nicht gewusst«, hat Maria nachdem ersten Bilderbuch gestaunt, »dass es so interessante Bücher gibt.«
Sie liebt Alissa aufs Zärtlichste. So sehr, dass sie dagegen war, die Kleine mit drei Jahren in den Kindergarten zu geben, wo es Kinderkrankheiten und Tiefkühl Essen gibt, und ich mit dem Jugendamt drohen musste, um ihren Widerstand zu brechen. Ständig knutscht und streichelt Maria meine Schwester und verkneift sich nur unter vielen runtergeschluckten Tränen das von mir streng verbotene jämmerliche: »Mein armes Waisenkindchen«. Wenn Alissa nicht gerade auf Marias Schoß sitzt, steht sie auf einem Schemel in der Küche und schaut den Buletten beim Brutzeln zu. Rezepte kann sie inzwischen auswendig. Neulich hat sie mir erklärt, wie frischer Koriander aussieht und vor allem riecht – »so, dass man sofort kotzen muss«.
Marias Angst, zurück nach Nowosibirsk zu müssen, hat auch mit Alissa zu tun. Eine Trennung würde nicht nur meiner Schwester, sondern auch Maria das Herz brechen. »Wenn Alil einmal groß ist, dann fühle ich mich wieder frei«, sagt Maria. »Ich will sie großziehen, dass sie glücklich und gesund wird (meinarmeswaisenkindchen).«
An anderen Tagen sagt Maria, dass sie sich erst frei fühlen wird, wenn Alissa einen anständigen Mann zum Heiraten gefunden hat.
»Du bist keine Leibeigene«, sage ich. »Und es kann sein, dass Alissa erst mit Ende dreißig einen anständigen Mann findet. Wenn sie Glück hat.«
Maria seufzt. »Wenn
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