scherbenpark
zuversichtlich.
Ganz rechts, am weitesten von mir entfernt, hängt ein Bild, das mir neu ist. Ich kann es nicht genau erkennen. Ich kneife die Augen zusammen. Ingrid und Hans sehen das nicht, Wahrscheinlich haben sie gerade vergessen, dass ich da bin.
Ich schiebe den Stuhl zurück und stehe auf. Ich gehe zu dem Bild, und auf halbem Wege erkenne ich es und bleibe abrupt stehen.
Es ist ein Bild, das ich gemacht habe. Mit Harrys neuer Digitalkamera bei uns auf dem Balkon. Es ist das erste Bild an dieser Wand, auf dem außer Harry vergleichsweise viele Menschen sind – ganze drei, und alle sind mit ihm. Meine Mutter, um deren Schultern er den Arm legt. Alissa, die auf seinem rechten und meiner Mutter linkem Knie balanciert. Und Anton, der neben Harry sitzt, dicht an ihn gedrückt auf der engen Bank.
Es ist ziemlich dumm, mitten im Raum zu stehen und die Wand anzustarren. Ich muss ziemlich lange so ausgeharrt haben. Ingrid und Hans sind erwacht und haben ihre Köpfe zu mir gedreht.
»Was ist passiert, Kindchen?« fragt Ingrid aufgeregt. »Was ist da? Wo guckst du hin? Warum weinst du?«
Und es macht keinen Sinn, ihr zu sagen, dass ich nicht weine.
Ingrid kneift ebenfalls die Augen zusammen und guckt in die gleiche Richtung wie ich. Dann erkennt sie, wo ich gerade hinstarre.
»Du bist traurig, weil du nicht dabei bist? Auf diesem Bild? Ja?«
Ingrid steht auf und eilt zu mir und bleibt verunsichert hinter mir stehen.
Ich schüttle den Kopf und kehre an den Tisch zurück, und Ingrid folgt mir.
»Wir haben keines von dir gefunden auf seiner Kamera«, sagt Hans, es sind die ersten Worte, die ich heute aus seinem Mund höre. »Da waren nur zwei oder drei Bilder drauf, sie war ganz neu.«
Ich weiß es, ich habe Harry erklärt, wie sie funktioniert.
»Gib uns ein Bild von dir, Kindchen, das wollten wir dich sowieso fragen.«
Ich schüttle wieder den Kopf.
»Warum nicht? Hast du ein richtig großes? Ich kaufe einen schönen Rahmen.«
Ich springe auf, entschuldige mich und renne aufs Klo. Ich weiß, wo in diesem Haus was ist. Aus dem Badezimmerfenster kann ich in den saftig grünen rauschenden Garten sehen. Ganz hinten wächst ein Apfelbaum, an dem die Äpfel früh reif werden, sie leuchten dann milchig weiß von innen. Ich höre Ingrids und Hans' aufgeregte Stimmen im Wohnzimmer. Ich beißemir minutenlang auf die Lippen, danach ziehe ich die Spülung und wasche mir ausgiebig die Hände.
»Ich packe dir ein bisschen Kuchen für zu Hause ein, ja?« fragt Ingrid.
Ich sage ihr nicht, dass Maria jeden zweiten Tag einen Kuchen backt und dass ich Kuchen nicht leiden kann.
Ich räuspere mich und sage: »Das wäre schön.«
»Aber du bleibst noch ein bisschen, Kindchen? Ich weiß natürlich, es ist langweilig bei uns. Wir wollen dich nicht aufhalten.«
»Ich muss leider los.«
»Du könntest deine Hausaufgaben auch mal bei uns machen.«
Ich sehe Ingrid erstaunt an. Ich kann in ihrem Vorschlag keinen Sinn erkennen.
»Wir haben viele Bücher, und Hans könnte dir helfen«, sagt Ingrid. »Er weiß so viel.«
Hans hört gerade nicht zu, sonst hätte er widersprochen.
Ich verkneife mir ein Lächeln und bedanke mich.
Als Ingrid in die Küche geht, um Alufolie zu holen, entschließe ich mich zu einer Schocktherapie.
»Hans«, sage ich leise. »Weißt du was, Hans? Ich werde ihn umbringen.«
Hans sieht mich an.
»Ich werde Vadim umbringen.«
»Vadim?« spricht er mir mühsam nach.
»Ja, Vadim. Den Mörder. Ich werde den Mörder ermorden.«
Hans sieht mich an.
»Das steht doch auch im Alten Testament – Auge um Auge, Zahn um Zahn. Es wird nur gerecht sein.«
»Welchen Vadim?« fragt Hans mit eingerosteter Stimme.
»Du kannst doch den Vadim nicht vergessen haben, Hans. Ich werde sie rächen. Meine Mutter und Harry.«
Hans sieht mich an. Ich kann seinen Gesichtsausdruck überhaupt nicht deuten. Seine Züge sind völlig starr. Er sagt kein Wort.
Ich könnte mich ohrfeigen. Welcher Teufel hat dich gerade geritten, du dumme Kuh, denke ich.
Selbst wenn Hans meine Worte begriffen hat, wird er sie nicht glauben. Und was wird er denken, wenn er davon hört, dass ich es geschafft habe? Wird er da, zumindest für einen Moment, wieder lebendig? Wird er Genugtuung empfinden? So etwas wie Freude? Werden seine Augen aufleuchten? Und Ingrids?
Sie kommt zu mir und lässt ein silbriges Bündel in meine Hand gleiten.
»Quetsch ihn nicht, da ist der Kuchen«, sagt sie sehr ernst.
»Danke«, sage ich. »Ich ruf dann wieder
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