scherbenpark
meinen Rucksack am Schulterriemen hoch. Der Mann steht rasch auf. »Danke, dass Sie mich hier reingelassen haben«, sage ich. »Ich fühle mich ernst genommen. Ich gehe jetzt.«
»Ich bringe Sie runter«, sagt er und öffnet mir die Tür. Wir fahren stumm Aufzug. In meiner Faust zappelt das Kärtchen wie ein gefangener Schmetterling. Vielleicht kommt es mir aber auch nur so vor, weil meine Hände zittern.
Vor der Glastür drehe ich mich noch einmal zu ihm. Ich erwarte ein wenig bange einen Abschiedshändedruck. Ich mag so etwas nicht und werde mich wahrscheinlich auch nicht mehr daran gewöhnen.
Aber der Händedruck bleibt aus. Der Mann berührt mich kurz an der Schulter und sagt »Auf Wiedersehen«.
»Auf Wiedersehen«, wiederhole ich wie ein Echo.
Ich fahre U-Bahn, S-Bahn, dann Straßenbahn. DasKärtchen hat sich in meiner Hand ein bisschen beruhigt. Ich schließe mit der anderen Hand die Wohnungstür auf und werfe meinen Rucksack in die Ecke unter die Mäntel.
Dann sehe ich sie – die Schuhe.
Ich hätte sie nicht bemerkt, wenn ich nicht über sie gestolpert wäre. Es sind große fleckige Lederschuhe mit schlaff herunterhängenden Schnürsenkeln.
Nanu, denke ich träge und schiebe sie mit dem Fuß beiseite. Ich will direkt in mein Zimmer gehen. An der Schwelle bleibe ich aber stehen und drehe mich noch mal um und sehe quer durch den Raum auf die Schuhe.
Das ist so eine Art Rätsel, denke ich. Eine Birne, eine Banane, ein Apfel und eine Motorsäge. Welcher Gegenstand passt nicht zu den anderen drei?
So ein grauer Nebel ist eigentlich ganz schön, denke ich. Überhaupt ist Grau eine schöne Farbe. Sie wurde lange unterschätzt und vernachlässigt und hatte einen schlechten Ruf. Aber ich habe vor, mich mit ihr anzufreunden.
»Maria«, rufe ich, für mich selber überraschend. »Hier stehen so Schuhe! «
Die Antwort kommt schnell, sehr hoch, irgendwie erschrocken, und lautet, wörtlich: »Och!«
»Was ›och‹?« frage ich aggressiv.
Maria erscheint in der Küchentür. Sie trägt hautfarbene Leggings und eine geblümte Bluse und streicht sich hektisch über die blonden Locken.
»Saschalein«, spricht sie und reißt die Augen auf. »Du bist ja so früh heute. Wir . . . ich habe noch gar nicht mit dir gerechnet.«
»Wieso früh?« frage ich. »Ich bin doch nicht früh!«
»Du hast freitags doch immer deine AH«, sagt Maria schnell.
»Meine AG«, korrigiere ich und begreife erstaunt, dass Maria recht hat. Freitags habe ich eine Philosophie-AG bis spät in den Nachmittag. Das habe ich vergessen. »Na und?« frage ich. »Darf ich nicht nach Hause kommen, wann ich will?«
»Doch, doch«, sagt Maria schnell. »Natürlich, natürlich.«
Irgendwie ist sie mir heute zu blass, denke ich.
Die Motorsäge ist die richtige Antwort. Sie ist das Einzige in dem Quartett, das nicht fault.
Ich gehe also nicht in mein Zimmer, sondern in die Küche. Maria versperrt mir den Weg, und ich muss sie nur ganz kurz anschreien, bis sie endlich beiseitegeht. Ich mache einen großen Schritt und habe endlich die große Erkenntnis.
An unserem Küchentisch sitzt Grigorij, der Vater von Annas Freundin Angela. Ich kenne ihn vom Sehen. Wir grüßen uns aber immer. Er ist klein und schmächtig, hat einen schwarzen Schnauzbart und einen grau gesprenkelten wirren Haarschopf. Er trägt ein Unterhemd zu Trainingshosen und versucht, sich hinter seiner Teetasse zu verstecken. Es gelingt ihm nicht, auch wenn die Tasse sehr groß ist. Sie dampft, und Grigorij hält sich an einem Löffel fest, dessen anderes Ende in ein Schälchen mit Marmelade getunkt ist. Das Stillleben wird ergänzt von einem Schälchen mit Lebkuchen und Mohnkringeln.
»Tag, Onkel Grischa«, sage ich automatisch.
Grigorij steckt den Löffel in den Mund und leckt ihn ab – wahrscheinlich reine Übersprungshandlung. »Hallo, Sascha«, sagt er schnell. Es ertönt ein fremdartiges Rascheln und Schaben. Ich runzle die Stirn, bis ich kapiere, dass es Grigorijs Füße in blauen Socken sind, die unter dem Tisch herumtasten. Wahrscheinlich auf der Suche nach Schuhen.
»Deine Schuhe sind im Flur«, sage ich ziemlich friedlich. »Oder hast du hier bereits eigene Pantoffeln? Sag mir nicht, dass du meine nimmst. Bis jetzt haben sich unsere Wege hier ja noch nie gekreuzt.«
»Du irrst dich, Sascha«, sagt er. Das lässt meinen Ärger kurz aufflammen, denn nichts hasse ich mehr, als wenn Menschen unlogisch daherreden.
»Worin irre ich mich denn bitte genau?« frage ich. Maria
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