scherbenpark
hat.
Nein, nicht bloß den Inhalt. Er liest vor, aber nicht aus dem Buch, sondern aus seinem Gedächtnis. Einmal habe ich mit dem Text danebengesessen und verglichen,und er hatte pro Seite höchstens fünf Wörter falsch.
Wenn jemand in irgendetwas so gut ist, dann bin ich nicht neidisch, sondern voller Bewunderung.
In meinem ersten Jahr im Solitär habe ich viele Stunden bei Oleg auf der Bank verbracht. Allerdings nicht, um mir die Geschichten anzuhören. Ich hatte nie die Geduld, um mir vorlesen oder erzählen zu lassen, ich las alles lieber in meinem eigenen, viel schnelleren Tempo.
Nein, ich spielte Schach. Er war verdammt gut. Er ist es wahrscheinlich immer noch. Ich kenne niemanden, der jemals gegen ihn gewonnen hat. Die Aufgaben aus den Schach-Zeitschriften knackt er wie hohle Nüsse.
Kein Wunder, dass er inzwischen niemanden mehr findet, der gegen ihn spielen will. Ich war damals die Einzige, die sich von den ständigen Niederlagen nicht entmutigen ließ. Ich habe es immer wieder probiert und war schon stolz, wenn er mich nicht nach dem zehnten, sondern erst nach dem vierzehnten Zug schachmatt gesetzt hat. Er hat mir hinterher immer sehr ausführlich erklärt, was ich falsch gemacht hatte. Alles nämlich.
In diesem ersten Jahr habe ich auch nachts von Türmen und Springern und schwarz-weißen Kästchen geträumt. Nach der Schule warf ich meinen Ranzen auf die Treppe und reihte als Erstes, noch vor dem Mittagessen und vor den Hausaufgaben, die Figuren auf der Bank auf.
Ich hörte Oleg überhaupt nicht zu, wenn er dabei irgendetwaserzählte. Ich starrte nur auf das Brett, und manchmal hob ich den Kopf und sah erstaunt, dass inzwischen eine Gruppe Jungs um uns herumstand, die Oleg lauschten und dabei sehr rote Köpfe hatten. Er erzählte ihnen etwas, während er lässig die Schachfiguren verschob und zwischendrin ein paar Bemerkungen zu meinen Zügen fallen ließ, seine einzigen Worte, die mich während des Spiels gerade so erreichten. Dafür sprach er extra ein bisschen lauter, und ich fragte: »Was? Ja, ja«, und schaltete meine Ohren wieder auf Durchzug.
Und dann kam der Tag, an dem ich Plötzlich verstand, dass er den Jungs minutiös die Pornos nacherzählte, die ihm die zwei Straßen weiter angesiedelte Videothek nach Hause lieferte und nach einer Woche wieder abholte. Und dass er das wahrscheinlich schon die ganze Zeit gemacht hatte, während ich danebensaß und mir Gedanken machte über Aufstellungen und Angriffe.
Ich war zehn Jahre alt und brauchte einige Zeit, um die Schilderungen von Olegs sanfter Stimme mit dem aufgeregten Gekicher seiner verpickelten Zuhörer in Verbindung zu bringen. Ich vergaß darüber das Spiel und bestaunte mit offenem Mund die Bilder, die er mit präzisen Worten zeichnete, von denen einige genauso geheimnisvoll klangen wie am Anfang die Schachbegriffe. Mit mir sprach Oleg über Gabeln, Gambits und Rochaden, und was er den Jungs erzählte, klang eigentlich nicht viel anders. Dass bestimmte Zahlenkombinationen und französische Eröffnungen nicht nur in meinem Lieblingsspiel, sondern offenbar auchin seinen Pornos vorkamen, das war für mich ein großer und gemeiner Verrat.
Ich bekam damals nur mit Mühe meinen Mund zu, nahm meinen Ranzen, schob mich ohne einen Abschiedsgruß durch den Halbkreis der erhitzten Jungs und hasste von diesem Tag nicht nur Oleg, sondern auch das karierte Brett. Es wurde unser letztes Spiel, und das ist jetzt fast sieben Jahre her.
Er sitzt immer noch da, meine kleine Schwester rutscht fröhlich auf seinem Schoß herum, und zum ersten Mal seit jener Zeit setze ich mich zu Oleg auf die Bank und stelle erstaunt fest, dass seine Schachfiguren immer noch die gleichen sind. Diese schmutzig weiße Dame war früher immer die meine, und beim schwarzen König war schon damals ein Stück der Krone abgebrochen.
»Sieh mal«, sagt Alissa unbekümmert zu mir und greift Olegs breites Handgelenk, »er schafft es nicht, mir die Hand zu brechen!«
»Wie?« frage ich irritiert und sehe Oleg an, der dabei nicht minder verlegen wird.
»Ich sage ihm, er soll meine Hand richtig fest zusammendrücken, dass es wehtut, aber er schafft es einfach nicht!«
»Was meinst du?«
»Drück mal«, sagt Alissa herrisch zu Oleg. »So fest du kannst.«
Und Olegs riesige Faust schließt sich um Alissas Unterarm, und Oleg läuft in gespielter Anstrengung rot an, und Alissa kreischt vor Vergnügen. »Es tut nicht weh! Es tut nicht weh!«
Und Oleg lächelt mich an, als würde
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