scherbenpark
er um Entschuldigung bitten, und schiebt Alissa von seinem Schoß.
Ich bin ein bisschen sprachlos, weil mir gerade einfällt, dass auch ich das gleiche Spiel mit ihm gespielt habe, in meinem ersten Jahr im Solitär. Er hatte schon damals enorm starke Arme, als wollte er damit die Kraftlosigkeit seiner Beine ausgleichen, und es hat mich ebenso gereizt, mich dieser Wucht auszuliefern.
Und ich habe genauso gejubelt, dass es gar nicht wehgetan hat.
»Lass ihn doch mal bei dir machen«, sagt Alissa.
Ich schweige bedrückt.
»Lange nicht gesehen«, sagt Oleg, es klingt rauer als früher.
»Wieso?« sage ich. »Ich sehe dich jeden Tag.«
»Aber nicht aus der Nähe. Was ist mit deinen Beinen passiert?«
Ich zucke mit den Schultern. Seine Erzählungen von damals, bei unserem letzten gemeinsamen Spiel, habe ich nicht vergessen. Ich sehe die Szenen, die sich dazu in meinem Kopf aufgebaut haben, immer noch vor meinem inneren Auge. Und das Blöde ist – ich habe damals nicht alles verstanden, und es ärgert mich bis heute, nicht zu wissen, was er hier und da gemeint hat.
»Was machst du da mit meiner Schwester?« frage ich und berühre vorsichtig eine verkrustete Stelle auf meinem Schienbein.
Und Oleg setzt sich gerade und ordnet seine Krücken.
»Gar nichts mache ich«, sagt er etwas erschrocken, vielleicht von meinem Tonfall, vielleicht von meinem Gesichtsausdruck. »Was soll ich mit ihr machen? Hab ihr ein paar Züge gezeigt. Ist so ein helles Köpfchen. Ist so lustig.«
»Ja«, sage ich monoton. »Ist sie. Gegen wen spielst du sonst so?«
»Gegen niemanden«, sagt er und lächelt wieder sein Tut-mir-leid-Lächeln. »Ich habe jetzt einen Schachcomputer. Ansonsten hat das Interesse der Bevölkerung sehr nachgelassen. Meine drei Lieblingsrentner sind tot, und Nachwuchs gibt es keinen, ich meine, der, den es gibt, der schießt lieber auf Monster oder begrapscht Lara Croft.«
Und mir fällt ein, dass Vadim auch oft neben Oleg gesessen und ihm zugehört hat, im Gesicht einen widerlich schmalzigen Ausdruck. Und Oleg rezitierte da bestimmt keine neue Nabokov-Biografie. Und danach kam Vadim nach Hause und legte meiner Mutter den Arm um die Taille, sehr selbstverständlich.
Und da habe ich den bösen Gedanken, dass ich Oleg sein gebrochenes Rückgrat von Herzen gönne.
Aber dann fällt mir auch wieder ein, dass meine Mutter ebenfalls oft bei Oleg gesessen und gelacht hat und dass er ihr oft ihre Lieblingszitate vortrug – von Pontius Pilatus, dem Prokurator von Judäa, der angetan mit einem blutrot gefütterten weißen Umhang mit schlürfenden Kavalleristenschritten im Säulengang erschien und furchtbare Kopfschmerzen hatte, o ihr Götter, wofür straft ihr mich?
Es war bereits die Zeit, als ich nie wieder Schachspielen wollte. Einmal fragte ich meine Mutter wütend, wie sie mit Oleg überhaupt reden kann, ob sie denn nicht weiß, was sein größtes Hobby ist?
»Was denn?« hat sie ruhig zurückgefragt, und ich sah auf meine Füße und nuschelte etwas, das sie merkwürdigerweise verstand.
»Süße«, sagte sie. »Er ist doch gelähmt.«
»Na und?« habe ich wütend geantwortet. »Geschieht ihm recht. Du hättest sehen sollen, wie sich die kleinen Wichser an seinen Geschichten aufgegeilt haben.«
»Sei gnädig, er ist doch gelähmt«, wiederholte meine Mutter. Ich fand es damals ärgerlich. Aber jetzt, wenn ich in Olegs gealtertes Gesicht sehe, fällt mir wieder ein, dass er auf der Beerdigung meiner Mutter eine Sonnenbrille getragen hat, mitten in der düsteren Trauerhalle. Es war das einzige Mal überhaupt, dass ich ihn mit Sonnenbrille gesehen habe. Jetzt ist es zum Beispiel gerade sehr grell, und er trägt keine.
»Wollen wir?« frage ich, bevor ich darüber nachdenken und es mir wieder ausreden kann.
Er sieht mich aufmerksam an und bewegt verständnislos die Augenbrauen.
»Was ist?« frage ich. »Ich habe ungefähr sechs Jahre nicht mehr gespielt. Und du? Wie viele Großmeister hast du in der Zwischenzeit besiegt?«
»Vier«, sagt er schüchtern. »Online.«
Ich nehme die weiße Dame und stelle sie auf e8.
»Du hast aber auch alles vergessen«, sagt Oleg. »Dreh das Brett um. d1. Aber diese Figuren sind nicht mehr komplett. Ich habe einen neuen Satz zu Hause.«
Er fasst mit der Hand an den Wohnungsschlüssel, den er wie ein Kind an einer Schnur um den Hals trägt, und sieht mich fragend an.
»Gib her«, sage ich. »Ich kann sie holen. Wo liegen sie?«
»Weiße Kiste im Regal«, sagt er und legt den
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