Scheunenfest: Ein Alpen-Krimi (Alpen-Krimis) (German Edition)
stationiert.«
»Und einer davon war der junge Xaver«, sagte Irmi leise.
»Die Russen rückten im Herbst 1944 von Murmansk aus vor und eroberten Kirkenes. Hitler gab daraufhin den Befehl zur Zwangsevakuierung der Bevölkerung und zur Verwüstung der Finnmark. Schon im Sommer waren viele Bewohner geflüchtet, als es Luftangriffe auf Kirkenes, Vadsø und Vardø gab. Sie wurden zu Flüchtlingen im eigenen Land. Beachtlich ist, dass etwa fünfundzwanzigtausend Bewohner trotz angedrohter Todesstrafe der Evakuierung trotzten. Sie blieben einfach, hausten in Hütten, Höhlen, umgedrehten Booten und Erdlöchern.«
»Puh, da muss man sich ja nicht wundern, dass manche Norweger die Deutschen bis heute hassen!«
»Danach musst du deine Kollegen in Alta fragen, aber ich habe eigentlich nie Ressentiments gegenüber Deutschen gespürt. In der damaligen Zeit war es natürlich Wahnsinn, ein Mädchen aus der Finnmark zu lieben und umgekehrt. Ich weiß nicht ganz genau, ob die Zahlen stimmen, aber ich glaube, es gibt in Norwegen rund zwölftausend Kinder aus Verbindungen mit deutschen Soldaten, von denen schätzungsweise achttausend im Rahmen des norwegischen Lebensborn-Programms gezeugt wurden. Die Kinder wurden nach dem Krieg beschimpft, diskriminiert und zum Teil sogar zwangsadoptiert. Für die Mütter prägte man das Schimpfwort ›Deutschenflittchen‹. Das ist ein Thema, das in Norwegen bis heute tabuisiert wird.«
»Aber dann hätte das Mädchen doch besser daran getan, Xaver nach Deutschland zu folgen?«
»Das ist der Blickwinkel der Moderne! Wie hätte sie denn von hier wegkommen sollen? Und wie hätte sie ihren Xaver wiederfinden sollen? Er war doch nach dem Krieg in englischer Gefangenschaft, hast du erzählt. Damals war die ganze Welt aus den Fugen geraten.«
Irmi schluckte und sah hinaus in die lilafarbene Dämmerung. Sie hatten Alta erreicht. Der Polizeiposten lag im Zentrum der Stadt, die mit ihren Klötzchenbauten nun wahrlich nicht hübsch zu nennen war. Es roch nach Meer, als sie das Fenster herunterkurbelte, weil die Scheibe angelaufen war.
»Die Stadt sieht nicht gerade einladend aus«, meinte Irmi.
»Tja, romantisch ist Alta wirklich nicht. Da sind wieder wir Deutschen schuld. In Honningsvåg zum Beispiel lag im Dezember 1944 mit Ausnahme der Kirche alles in Schutt und Asche. Hier in Alta sind wenigstens ein paar Steine aufeinandergeblieben.«
»Mir geht das alles auf einmal so nahe«, sagte Irmi nachdenklich.
»Zeit war immer schon relativ und subjektiv. Wie viele Wunden heilt die Zeit? Und wie viele bleiben offen?« Er lächelte. »Ich warte drüben im Café auf dich und esse so lange ein fettes Stück Schokokuchen. Für die Plauze.«
Im Polizeigebäude wurde Irmi von einem großen Wikinger begrüßt, der genauso aussah, wie sie sich einen Norweger vorstellte. Lächelnd sagte er: »Hei og velkommen«, und stellte sich als Aksel vor. Dann bat er sie herein und brachte ihr erst mal einen Kaffee. Irmi war davon überzeugt, dass ein Norweger sicher auf der Stelle sterben würde, müsste er auf Kaffee und Kartoffeln verzichten.
»Du kommst gerade aus Lakselv?«
»Ja, ein Bekannter hat mich hergefahren.«
»Das ist gut«, sagte er in beinahe akzentfreiem Deutsch.
»Dein Deutsch ist perfekt«, lobte Irmi.
»Ich war mal ein Jahr in Hamburg.«
Sie zögerte, und auf einmal war es ihr ein Anliegen zu erzählen, dass sie und Jens sich auf der Fahrt hierher über die Besatzungszeit unterhalten hatten. »Das war wirklich kein Ruhmesblatt der deutschen Geschichte«, sagte sie. »Mein Volk …«
»Lass gut sein«, unterbrach er sie. »Krieg ist nie ein Ruhmesblatt, bei keinem Volk dieser Welt. Aber keine Sorge, wir haben nichts gegen deutsche Gäste. Sie sind uns wirklich willkommen, solange sie nicht mit Zündhölzchen spielen.« Sein Lachen war ansteckend und nahm viel Schwere aus dem Tag, der so sanft begonnen hatte und dann so kompliziert geworden war.
»Aber jetzt erzähl mal. Bei diesem Fall geht ja um eine Kriegsgeschichte, wenn ich das richtig verstanden habe.«
»Ja, im weitesten Sinne.« Und Irmi schilderte ihren Fall, der mit einem gewaltigen Brand begonnen und sie erst zu den Baumaschinenschiebereien geführt hatte. Sie erzählte von der Situation der osteuropäischen Pflegekräfte, berichtete von Ionellas Vater und Bruder und deren Verzweiflung. Dann kam sie auf ihre beiden Verdächtigen zu sprechen, die immer noch beteuerten, niemanden ermordet zu haben. Und schließlich erzählte sie die
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