Scheunenfest: Ein Alpen-Krimi (Alpen-Krimis) (German Edition)
dem Runas Großmutter inzwischen wohnte. Es war gelb gestrichen, hatte weiße Fensterrahmen und sah so skandinavisch aus wie die Landschaft. Kaum rollte der Wagen aus, trat eine Frau aus dem Haus – in dunklem Wollrock, dicker roter Strumpfhose und einem langen Pulli mit Norwegermuster. Sie hatte ihre grauen Haare hochgesteckt. So würde Åses Tochter wohl in zwanzig Jahren aussehen, dachte Irmi, und das waren keine schlechten Aussichten, denn die Frau wirkte auf den ersten Blick sympathisch.
Runa sprang aus dem Wagen und rannte auf die Oma zu, die sie in den Arm nahm. Runa weinte und weinte, Åse strich ihr unentwegt übers Haar. Eine zweite Frau kam heraus und stellte sich als Lore vor. Sie führte Aksel und Irmi in die urgemütliche himmelblaue Küche, wo es Kaffee gab und Kekse, Flatbrød und Käse.
»Greift zu«, sagte Lore. »Ich hoffe, es stört euch nicht, wenn ich beim Du bleibe. Ich bin schon so lange in Norwegen, dass ich mich an das formale deutsche Sie nicht mehr gewöhnen kann.«
Sie schenkte Kaffee in große Keramikbecher und reichte Irmi den Keksteller. Eine rote Katze kam auf dicken Bärentatzen hereingeschritten, warf einen huldvollen Blick in die Runde und sprang auf die Bank. Mit der Noblesse seiner Art angelte sich das Tier einen Keks vom Teller und verspeiste ihn umgehend.
»Lord Nelson!«, rief Lore. »Deine Manieren lassen zu wünschen übrig.«
Irmi lachte. »Ich habe auch zwei so unmanierliche Kater, gar kein Problem.«
Runa und Åse waren noch immer nicht hereingekommen. Es vergingen einige Minuten des Schweigens, die Irmi aber nicht als unangenehm empfand.
»Ich wusste, dass dieser Tag irgendwann kommen würde«, sagte Lore schließlich und schickte einen besorgten Blick in Richtung Tür.
»Das heißt, Sie wussten von Åses Abstammung?«
Lore nickte. »Åse hat ihr Wissen lange verdrängt. Was hätte es ihr auch genutzt? Ein deutscher Vater, der sie im Stich gelassen hatte. Warum hätte sie ihn suchen sollen?«
»Aber er hat ihrer Mutter glühende Briefe geschrieben!«, rief Irmi, als müsste sie Xaver Schmid verteidigen.
»Briefe sind federleicht. Gedanken sind frei. Sie werden zu Sätzen, und die fliegen über Kontinente. Die Realität aber wiegt schwerer, sie macht keine Höhenflüge«, erwiderte Lore.
Irmi sah sie überrascht an. Solche nachdenklichen Worte hatte sie von ihr nicht erwartet. Lore wirkte so handfest.
»Das mag schon sein. Aber die Realität ist auch, dass ihr bayerischer Vater ihr fünfzigtausend Euro und ein riesiges, wertvolles Waldstück vermachen will. Das geht aus seinem Testament hervor, und er kannte auch ihre Adresse in Honningsvåg«, sagte Irmi.
»Oh!« Lore überlegte. »Und nun nimmst du an, dass die junge Frau, die sich als Runa ausgegeben hat, Ziel eines Mordkomplotts wurde. Weil die Menschen da unten nicht bereit sind, das Erbe zu teilen?«
»Ja, so in etwa. Es gibt noch viele Ungereimtheiten. Wir wissen nicht, ob und wer aus der Familie von dem Testament wusste. Wir wissen auch nicht, wie die Familie die Zusammenhänge zwischen Runa Dalby und Åse Luhkkár hergestellt haben könnte. Aber das werde ich herausfinden. Das muss ich«, sagte Irmi.
»Nun, wenn dieser Mann Åse als Erbin eingesetzt hat und ihre frühere Adresse kannte, dann muss er seinerseits nachgeforscht haben.«
»Ja, eben!«
Åse streckte plötzlich den Kopf herein. »Ich will nicht unhöflich sein, aber diese ganzen Dinge haben lange geruht. Sie werden auch noch ein wenig mehr Zeit vertragen. Ich muss mich jetzt um Runa kümmern. Wir fahren auf den Berg. Das wird ihr helfen.«
Lore lächelte. »Und dir auch, oder?«
»Wir treffen uns im Hotel«, sagte Åse und zog die Tür wieder zu. Es lag so viel Zuneigung in ihrem Blick, und Irmi begriff, dass die beiden Damen mehr waren als nur alte Freundinnen.
Dennoch war sie etwas irritiert. Was dachten die sich eigentlich? Sie steckte mitten in den Ermittlungen zu einem Doppelmord, und nun machte sich diejenige, die Aufklärung bringen sollte, einfach aus dem Staub?
Lore schien Irmis Ungehaltenheit zu spüren. »Åse und Runa teilen eine Passion: Sie fahren Ski«, erklärte sie. »Vor allem, wenn es ihnen schlecht geht, hilft es ihnen. Åse fährt wie eine Schneegöttin. Auch mit knapp siebzig. Die Luft, die Geschwindigkeit, der Rhythmus, der Tanz auf Schnee – sie braucht das, um wieder denken zu können. Und Runa geht es genauso.«
»Du willst sagen, die beiden sind Ski fahren gegangen?«, fragte Aksel ungläubig nach
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