Scheunenfest: Ein Alpen-Krimi (Alpen-Krimis) (German Edition)
gar keine echte Schwiegermutter. Dass Åse trotzdem seinen Namen führte, lag vor allem daran, dass er weniger sperrig war als ihr eigener Nachname, Luhkkár.
Henrik hatte nach und nach mehr aus dem Leben der Oma erfahren. Wenn er Runa zu ihr brachte und wieder abholte, hatten sie häufig noch ein wenig auf der Veranda gesessen, übers Meer geblickt und geredet. Åse hatte lange geglaubt, dass die Umgebung, die Schulfreunde und Lehrer sie deshalb ablehnten, weil samisches Blut in ihren Adern floss. Doch irgendwann hatte sie begriffen, dass sie außerdem das Kind einer Vaterlandsverräterin war.
Magga starb früh – »an gebrochenem Herzen«, wie Henrik sagte –, und Åse erbte ein Häuschen, in dem sie später ihr Café eröffnete. Davon abgesehen, bestand das Vermächtnis der Mutter aus Kuchenrezepten und Xavers Briefen. Und die lieferten Åse den Beweis: Sie hatte nicht nur samisches Blut in ihren Adern, sondern auch deutsches.
»Meine Schwiegermutter ist zu einem Viertel Sami und zur Hälfte Deutsche. Für die damalige Zeit war das eine ungeheuerliche Mischung«, sagte Henrik leise.
Irmi hatte ihm die ganze Zeit gebannt zugehört. Nun unterbrach sie ihn. »Das heißt also, Xaver Schmid liebte ein Mädchen, das zur Hälfte Sami war?«
Henrik nickte. »Ja, und das war aus Sicht der deutschen Rassenhygiene noch viel brisanter.« Wieder wurde es still im Raum.
»Und dann?«, fragte Aksel schließlich.
Henrik wusste nicht zu sagen, ob seine Schwiegermutter jemals Kontakt zu ihrem Vater aufgenommen hatte. Irmi vermutete, dass sie das auch nie getan hatte. Die Luhkkár-Frauen hatten wohl einen Pakt mit dieser Truhe geschlossen. Einen Pakt, sie niemals mehr zu öffnen. Erst Runa hat den Pakt gebrochen.
Die kleine Åse, Henriks streitbare Fotografin, war 1965 zur Welt gekommen. Ihre Mutter war nur wenige Jahre verheiratet gewesen, erzählte Henrik, sie habe mit achtzehn einen jungen Norweger geheiratet, der dann aber nach Kanada gegangen war. Auch darüber wurde nie gesprochen. Ein Meer aus Schweigen.
Åse, die junge Wilde, kannte ihre Familiengeschichte auch nur aus dem wenigen, was ihre Mutter ihr erzählt hatte. Und offenbar wollte sie genau diesen Makel ausmerzen. Sie wollte nicht mehr das schwache Mädchen einer verlassenen Oma und einer verlassenen Mutter sein. Sie kämpfte für ihren beruflichen Erfolg, notfalls auch mit scharfen Schwertern, und machte sich unabhängig von irgendwelchen Männern. Nur Henrik gelang es, zu ihr durchzudringen. Er schien ein Rezept für ihre Behandlung gefunden zu haben: Duldsamkeit.
»Åse kommt immer sehr hart rüber, leider war sie Runa auch keine liebevolle Mutter. Aber ich war ja auch kein guter Vater. Ich war gar kein Vater.« Nun traten ihm doch Tränen in die Augen. »Aber Åse ist nicht so hart. Wenn sie unbeobachtet ist, weint sie. Ich habe sie zusammenbrechen sehen, vor geschlachteten Seehundbabys. Da hat sie mich geschlagen und getreten und gesagt, dass ich weggehen soll. Sie will nicht, dass jemand diese Seite von ihr sieht. Ich liebe meine Frau, und auf ihre Weise liebt sie mich auch. Wir gehören zusammen. Das hat Runa nie verstehen wollen.«
Vielleicht auch nicht verstehen können, dachte Irmi. Runas Kindheit war jenseits normaler Familienverhältnisse abgelaufen, jenseits klarer Werte und Ankerpunkte. Was für ein Bild von der Liebe hätte sie denn bekommen können?
»Der alte Herr in Bayern hat sehr viel wertvolles Land an Ihre Schwiegermutter vererbt«, sagte Irmi. »Wusste Ihre Frau davon? Oder Sie?«
Henrik schüttelte den Kopf.
»Und was ist mit Åse senior? Kann sie davon gewusst haben?«, schaltete sich Aksel ein.
»Das glaube ich nicht«, meinte Henrik tonlos.
»Wir werden nach Trysil fahren müssen, um mit deiner Schwiegermutter zu sprechen«, sagte Aksel. »Verkraftet sie das?«
»Sie ist gesund und fit, wenn du das meinst«, sagte Henrik.
»Es wäre gut, wenn Ihre Frau mitkäme«, ergänzte Irmi.
»Ich rede mit ihr, aber ich habe wenig Hoffnung. Sie lässt sich nicht fremdbestimmen. Runa wird mitkommen wollen, aber sie ist doch so schwach.«
»Meine Frau hat ihr Okay zu der Reise gegeben, sofern wir aufpassen, dass sie genug isst und trinkt«, sagte Aksel.
Henrik nickte. Es war ihm anzusehen, wie froh er war, dass ihm jemand die Entscheidung abnahm.
»Möchtest du noch mal mit Runa reden?«, fragte Aksel.
»Nein, ich mache mich jetzt auf die Suche nach meiner Frau«, sagte er und sah auf seine Hände. »Ich bringe Runa aber später
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