Scheunenfest: Ein Alpen-Krimi (Alpen-Krimis) (German Edition)
Modeströmungen überdauert hatte. Manche Menschen sahen eben genau so aus, wie man sie sich vorstellte. Am Fußende des Betts stand Runas Mutter. Insgeheim hatte Irmi eine kleine, zähe Frau mit Kurzhaarschnitt erwartet, doch Åse war eine hübsche, eher kräftige Frau. Ihr langes blondes Haar, das sie als Zopf trug, war von grauen Strähnen durchzogen. Sie hatte jene Fältchen im Gesicht, die Menschen bekommen, die bei Wind und Wetter, bei Sonne und Kälte viel draußen sind. Menschen, die nicht darauf achten, stets die richtige Schutzcreme parat zu halten.
Aksel stellte sich und Irmi vor. Dann bat er Runas Eltern, ihnen ins Büro seiner Frau zu folgen. Es war klein und funktional, bar jeden Statussymbols. An der Wand hing ein Foto von den Felsmalereien. Sie setzte sich an einen kleinen Tisch, der mit weißen Plastikstühlen umstellt war.
»Eure Tochter hat euch erzählt, was passiert ist?«, fragte Aksel auf Deutsch, blieb aber dennoch beim Du. Offensichtlich beherrschten auch Runas Eltern die Sprache Goethes. Irmi schämte sich mal wieder ihres schlechten Englisch. Alle auf der Welt schienen problemlos durch verschiedene Sprachen zu reisen. Nur sie nicht – wie auch viele andere in ihrer bayerischen Heimat. Immerhin konnten sie Boarisch und leidlich Hochdeutsch. Auch eine Form der Zweisprachigkeit.
Der Vater nickte. Irmi berichtete, was sie hierhergeführt hatte.
»Was haben die Mädchen da nur getan?« Henriks Stimme zitterte. »Wir kennen Marit. Sie war so fröhlich … so lebendig. Und was, wenn Runa gefahren wäre? Ich mag mir das gar nicht vorstellen …«
»It’s damn stupid«, sagte Åse mit einer Härte, die Irmi innerlich zusammenzucken ließ.
»Runa hat herausgefunden, dass ihre Oma die Tochter eines deutschen Besatzungssoldaten ist. Sie hat in dieser Vergangenheit herumgestochert, aber was ist daran dumm? Das ist menschlich. Und Sie haben ihr nicht geholfen, diese Geschichte zu verstehen. Nein, Sie haben ihr sogar verboten, ihre Oma anzusprechen. Was hätte sie denn tun sollen?«
»Was ich gesagt habe. Die Vergangenheit einfach ruhen lassen.« Die Härte wich nicht aus Åses Stimme.
»Das hat sie aber nicht getan. Niemand hätte das getan. Denn in dieser Geschichte liegt eine große Verführung. Jeder hätte recherchiert, warum haben Sie sie nicht dabei unterstützt? Dann hätte Marit nicht diese Reise nach Bayern angetreten.«
Aksels Blick war erschrocken, natürlich hätte Irmi diesen letzten Satz nicht sagen dürfen. Aber diese Frau machte sie wütend, so wütend.
»Und dann wäre Marit nicht in eurem verdammten Deutschland gestorben? Wollen Sie das sagen? Dass es meine Schuld ist, dass ihr selbstgefälligen Deutschen gerne mordet? Vor siebzig Jahren genau wie heute?«
»Ich glaube, wir sollten uns etwas beruhigen«, sagte Aksel, aber Runas Mutter war schon aufgesprungen. »Das muss ich mir nicht bieten lassen!« Sie stürmte hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.
Sekundenlang war es still.
»Es tut mir leid«, sagte Henrik schließlich.
»Mir tut es leid. Ich habe Ihre Frau provoziert.«
»Aber Sie haben ja recht.« Henrik war den Tränen nahe. »Ich habe die Augen verschlossen und weggehört beim Streit der beiden. Mir war nicht klar, dass Runa diese Sache so wichtig war.«
Weil du in Gedanken längst bei deiner nächsten Expedition warst, dachte Irmi.
Es war, als hätte der Knall Henrik Dalby aus seiner Zurückhaltung gerissen. Er begann zu sprechen. Leise und eindringlich. Åse und er hatten sich Anfang der Achtzigerjahre an der Uni in Oslo kennengelernt. Sie waren beide politisch engagiert gewesen. Åse war eine Kämpferin gewesen, die nie die Folgen ihres Handelns bedacht hatte. Er hatte sie bewundert, weil er selbst zu oft zögerte. Von ihm also hatte Runa ihre Ruhe und Zurückhaltung geerbt, dachte Irmi.
Sie waren ein Paar geworden, das sich immer wieder getrennt hatte. Die wilde Åse hatte andere Männer gehabt und war doch immer wieder zu ihm in das wohltuende stille Hafenwasser zurückgekehrt. Irgendwann wurde sie schwanger, ungewollt natürlich, und 1988 war Runa zur Welt gekommen. Damals hatte Åse gerade einen Preis für Nachwuchsfotografen gewonnen, und einige renommierte Zeitschriften fragten bei der jungen Wilden an. Das Kind wurde zur Oma und später ins Internat gegeben. Erst in dieser Zeit hatte Henrik seine Schwiegermutter richtig kennengelernt, die er als herzliche und bescheidene Frau beschrieb. Da er und Åse nie geheiratet hatten, war sie eigentlich
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