Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Parteisekretär des Holzkombinats, auf einer Sitzung über das Thema der freien Arbeiter im Dezember 1945. »Wir müssen wachsamer sein und unsere Agitation unter den Freiwilligen verstärken.«
Überreste der Siedlung in der Industriezone; der Schornstein des Kraftwerks erhebt sich rechts im Hintergrund.
Die Lagerverwaltung war besonders besorgt über den Umgang der freien Arbeiter mit den Häftlingen. Innerhalb des Lagers fehlte eine wirkliche Trennung zwischen der Siedlung – welche die Häuser der freien Arbeiter, die Verwaltungsgebäude, die Personalkantine, das Clubhaus und den Laden umfasste – und der übrigen Industriezone, wo sich Häftlinge wie Lew während ihrer Schicht frei und ohne Bewachung bewegen konnten. 1949 trennte man die beiden Bereiche durch einen Stacheldrahtzaun voneinander und kontrollierte den Durchgang zur Siedlung mit Hilfe eines Wachhäuschens. Da der Zaun jedoch unvollständig war, konnten die Häftlinge relativ leicht in die Siedlung gelangen, indem sie das Brachland zwischen dem Kraftwerk und der äußeren Absperrung am Fluss überquerten. Vor der Errichtung des Zaunes hatte es lediglich eine provisorische Wache an der Siedlung gegeben, so dass Häftlinge regelmäßig ein und aus gingen. Oftmals sah man sie im Clubhaus mit den freien Arbeitern trinken. Es gab zahlreiche Berichte über Freie – und sogar Wärter und Parteimitglieder –, die mit Gefangenen zusammenlebten und auch Kinder mit ihnen hatten. Das MWD forderte ständig eine Straffung der Sicherheitsmaßnahmen im Einklang mit den Gulagbestimmungen, doch die Absichten des Ministeriums wurden durch Geldmangel, die schrecklichen Lebensbedingungen für alle Beteiligten, menschliche Schwächen und Sympathien vereitelt, so dass sich geringfügige Freiheiten am Rand des Systems entwickeln konnten.
Viele der Freien schmuggelten Briefe für die Gefangenen hinaus und herein – manchmal für Geld oder eine materielle Gegenleistung, häufiger aber schlicht aus Gründen der Freundschaft oder Solidarität. Sie versteckten Briefe in ihrer Kleidung und brachten sie zum Postamt des Ortes im Shanghai-Viertel. Umgekehrt ließen sie sich Sendungen an ihre eigene Adresse schicken und schmuggeltendiese in die Gefängniszone hinein. Beide Male entgingen die illegalen Briefe den Gulagzensoren, obwohl es für Häftlinge und ihre Briefpartner weiterhin ratsam war, so zu schreiben, dass niemand in Verdacht geriet, falls derjenige, der den Brief bei sich hatte, von einem Wärter erwischt wurde. Das MWD war über den Schmuggel sehr wohl auf dem Laufenden und beschloss des Öfteren, ihn zu unterbinden. Seine Sorge galt nicht nur der Tatsache, dass sich die Häftlinge offen über die Lagerbedingungen äußerten, was die Geheimhaltung des Gulagsystems untergrub, sondern in erster Linie der Möglichkeit, dass ihnen gefälschte Papiere und Geld für einen Fluchtversuch geschickt wurden.
1947 verfügte Lew schließlich über einen wachsenden Freundeskreis von freien Arbeitern, die bereit waren, Briefe für ihn und Sweta entgegenzunehmen. Nicht alle seine Mitteilungen wurden illegal verschickt, doch er benutzte diesen Kanal, wenn er Sweta etwas Wichtiges anvertrauen wollte. Das System scheint zwischen März und Juni voll funktionsfähig geworden zu sein. Am 1. März musste Lew noch darauf warten, dass jemand einen wichtigen Brief für ihn hinausschmuggelte:
Mein Liebling Sweta, ich muss Dir über allerlei Dinge schreiben, aber ich weiß einfach nicht, wann ich den Brief abschicken kann. Ich werde es nur dann tun, wenn sich die richtige Gelegenheit ergibt und ich sicher bin, dass er nur in Deine Hände gelangt und in die keines anderen. Freilich ist es, wenn der Brief bereits geschrieben ist, ebenfalls recht gefährlich, auf diese Gelegenheit zu warten. Ich plane, über zwei Themen zu schreiben: die Minimaxe [die Frage einer Berufung gegen Lews Urteil] und die Möglichkeit eines Treffens.
Am 14. Mai sandte Lew Briefe mit Hilfe des »neuen Systems« ab, das noch unter Kinderkrankheiten litt: »Du sollst wissen, dass das neue System der Versendung von Briefen zeitweilig stockt. Deshalb warten zwei Briefe seit vierzehn Tagen darauf, abgeschickt zu werden.« Und am 2. Juni konnte er bestätigen: »Meine Briefe scheinendurch das neue System pünktlicher geworden zu sein, weil sie nicht mehr Teer [Codewort für die Lagerzensur] durchlaufen müssen und deshalb nicht so leicht hängen bleiben.«
In diesem Stadium war Lews wichtigster
Weitere Kostenlose Bücher