Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
erlebt, wird sie 37 – noch keine 40! – Jahre alt sein. Aber wird es je zu einer solchen Begegnung kommen? Es ist wirklich schwierig für ihn, und manchmal, wenn ich mich von ihm verabschiede, könnte ich angesichts seines Unglücks und seiner kläglichen Situation in Tränen ausbrechen … Es geht so weit, dass ich vor lauter Ohnmacht und Entrüstung über alles, was ihm angetan worden ist, mit dem Kopf gegen die Wand rennen und mit den Zähnen knirschen möchte. Er ist ein wunderbarer Mensch, obwohl wir uns häufig streiten (auf zivilisierte Weise natürlich).
Der Frühling kam 1949 spät nach Petschora. Im Mai schneite es, und warme Tage stellten sich erst Mitte Juni ein. Der lange, kalte Winter erhöhte die Belastung für alle. Da der Fluss noch zugefroren war, konnten keine Baumstämme zum Kombinat befördert werden. Der Strom fiel oft aus, weil das Kraftwerk nicht genug Holz zum Verbrennen hatte. In der Sägemühle und in den Werkstätten standen darum auch die Maschinen still, weshalb sich die Arbeiter mit Handwerkszeug behelfen mussten. Das Holzkombinat blieb weit hinter dem Plan zurück, woraufhin die Gulagbehörden die Lebensmittellieferungen reduzierten. Den ganzen Winter hindurch herrschte chronischer Mangel an warmer Kleidung, Stiefeln und Handschuhen für die Häftlinge. Viele erkrankten, da sie gezwungenermaßen länger bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt arbeiteten, um das Produktionsdefizit wettzumachen. In der 2. Kolonie, der Lew angehörte, war, so schätzte man, einer von zehn Häftlingenim ersten Quartal 1949 arbeitsunfähig, doch nur ein Prozent pro Tag durfte offiziell krankgeschrieben werden.
Lew machte sich Sorgen um Konstantin Rykalow, einen politischen Häftling und Holzhacker im Kraftwerk. Dieser einst massige Mann war in seiner Jugend Boxer gewesen, doch die Mühsal des Lagers hatte ihn ausgezehrt, und er war schließlich von einer akuten Tuberkulose heimgesucht worden, die ihm das Atmen erschwerte. Lew mochte Rykalow gern. Laut seiner Beschreibung für Sweta war er »ein gebildeter Mann, kräftig, ehrlich bis an die Grenze der Pedanterie und, trotz der zwei Jahre, die er hier verbracht hat, ein unverbesserlicher Wahrheitssucher«. Lew besuchte Rykalow in der Krankenstation:
Er war angekleidet, ruhte sich auf dem Korridor aus und klagte darüber, dass er, um in Bewegung zu bleiben, Holz gehackt habe, doch rasch ermüdet sei. »Aber wo ist denn deine Axt?«, frage ich. Und er antwortet: »Ich bin auf einen wirklich schlimmen Knorren im Holz gestoßen und habe ein bisschen stärker zugeschlagen. Dabei ist der Axtgriff abgebrochen – sie werden einen neuen machen.«
Rykalow bemühte sich, wieder zu Kräften zu kommen, und hoffte, mit Lews und Semjonows Hilfe Elektriker im Kraftwerk zu werden. Zuweilen schaute er in der Mittagspause bei Lew vorbei:
Beschämt von seinem Vorwurf, ich würde mich nicht mehr bei ihm blicken lassen, stattete ich ihm vor zwei oder drei Tagen einen Besuch ab, und wir verbrachten den Abend damit, Tee zu trinken. Ich hörte mir seine Erinnerungen an, die von einem Päckchen Fotos begleitet wurden, und obwohl mir alles ein wenig fremd war, tat es mir nicht um die Zeit leid – erstens, weil er unzweifelhaft ein sympathischer, herzensguter Bursche ist, der interessante Vorlieben und Fertigkeiten hat und Gelassenheit ausstrahlt; und zweitens, weil er sich hier einsam fühlt und ich weiß, dass es ihm leichtfällt, mit mir zu reden. Dadurch verspürter eine gewisse Linderung, und ich fühle mich gut, weil ich jemandem geholfen habe. Das ist meine jetzige Analyse, doch zu jenem Zeitpunkt habe ich mich einfach wohlgefühlt.
Rykalow wurde Heizer im Kesselraum der Trocknungsanlage, doch er war der Schwerarbeit nicht gewachsen und zog sich eine ernste Rückenverletzung zu (der ehemalige Boxer hatte seine eigenen körperlichen Fähigkeiten überschätzt). Man verweigerte ihm die Aufnahme in die Krankenstation und steckte ihn in den Straftrakt, nachdem er beim Rauchen an einem nicht dafür ausgewiesenen Ort ertappt worden war. Dort erhielt er nur Wasser und Brot, wurde noch schwächer und musste auf Geheiß eines Arztes entlassen werden. Man brachte ihn innerhalb der Station in einen Sonderbereich für Tuberkulosekranke und ließ ihn leichtere Arbeit in der Industriezone verrichten.
Während Lew Rykalow in der Krankenstation besuchte, fiel ihm die Freundlichkeit einer der Schwestern auf, die »keine Einheimische zu sein scheint, sondern wegen
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