Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
schilderte. Sie erwähnte den Vorfall nur im Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung, die sie mit ihrer Jugendfreundin Irina Krause über eine gemeinsame Freundin und deren Affäre mit einem verheirateten Mann gehabt hatte. Sweta verurteilte das Verhalten der Frau, weil es auf einer Lüge basiere, und dadurch sei sie an einen jungen Mann erinnert worden, der
plante, sich zu verheiraten, als ich plötzlich auftauchte. Eine Woche vor der Trauung führten wir ein Gespräch. Er sagte, er habe nie eine bessere Frau als mich getroffen, seine Verlobte könne keinem Vergleich mit mir standhalten, und er leide schrecklich.Ich erwiderte, dass ich auf Dich wartete (das Ganze spielte sich 1945 ab), und fragte ihn, weshalb er es so eilig habe zu heiraten, wenn sie nicht die beste Partnerin für ihn sei. Er solle auf eine andere warten. Das hielt er jedoch für sinnlos: Wen man auch auswähle, eines Tages werde man bestimmt jemand Besserem begegnen, und um moralisch zu sein, müsse man, wenn man seine Entscheidung einmal getroffen habe, die Augen schließen und dürfe keinen anderen mehr anschauen. Und da er bereits versprochen habe, sie zu heiraten, sei es eine beschlossene Sache. Ich sagte, das sei respektlos ihr gegenüber. Eine derart blinde Moral kann ich nicht akzeptieren. Ich verzichte auf die Art Moral, die einen hinter sich herschleppt und Zwang anwendet. Hat diese Ansicht vielleicht mit meiner Jugend und Torheit zu tun?
Möglicherweise auch damit, dass sie in einer glücklichen Lage war: Sie wusste, dass sie den Mann hatte, den sie wirklich liebte, selbst wenn sie noch nicht zusammenleben konnten.
Lew stimmte ihr zu. Er brauchte Sweta mit niemandem zu vergleichen, weil er nur sie liebte.
Was die »beste Person« und das Verschließen der Augen vor der Zukunft betrifft – natürlich ist es falsch und unmöglich, so zu leben. Objektiv gesehen muss es andere geben, die besser sind, denn die Welt ist größer als [dieser eine Mensch], aber darum geht es nicht. Sondern darum, was dies für »mich«, das heißt für »ihn«, bedeutet. (Also, es fällt mir leichter, in der ersten Person zu philosophieren, deshalb benutze ich nun »ich« und »Du«.) Entscheidend ist, dass Du die Beste bist – nicht weil dies objektiv zutrifft, sondern weil Du für mich die Beste bist und ich keine andere brauche, nicht einmal die Königin von Saba, denn ich liebe Dich mit all Deinen Eigenheiten. Sogar Deine Fehler sind mir teuer, und Deine Vorzüge sind eine Quelle der Freude. Am Beginn [einer Beziehung] leiten sich die Gefühle natürlich von angenehmen Eigenschaften her, aber dann sind diese zweitrangig … Enttäuschung spielt oft eine Rolle, ebenso wie äußereUmstände – der Verlust der Anziehungskraft und so weiter. Aber wenn man jemanden seit Langem, nicht erst seit einem Monat oder einem Jahr, sondern viele Jahre hindurch gut kennt, dann schrumpft diese Gefahr zu einem Nichts – so kommt es mir jedenfalls vor. Wie rot wir werden und wie viele graue Haare wir haben, wird unwesentlich. Die Vernunft hilft bei alledem wenig, meine schon gar nicht. Ich liebe Dich, und das ist alles. Und für wie lange? Gut, es scheint für immer zu sein. Das zumindest ist mein Eindruck. Früher, als wir getrennt waren, schien es weniger gewiss zu sein, aber nun glaube, glaube, glaube ich. Was kann ich sonst noch sagen?
Lew meinte, dass jemand, der auch nur daran dachte, »jemand Besseres« zu finden, jegliche »emotionale Fähigkeit« verloren habe. Als er von »Vernunft« sprach, bezog er sich auf das »hohlherzige Denken«, das solche Berechnungen möglich mache, und auf Wladimir Majakowskis letztes Gedicht, das eine Zeile über »schändlichen Wohlverstand« enthielt:
Liebt mich? liebt mich nicht?
Händeringend, rätselratend
knacke ich meine Knöchel,
mit Fingern um mich werfend –
so schenkt man dem Maiwind,
mit Kamille orakelnd,
Kronblätter, die Zufallsblume entnervend,
Haarschnitt und Bartschur, gebt preis mein Ergrauen! Der Jahre Silbergeläut, sei nicht schüchtern!
Nie in Ewigkeit kommt mir (will hoffend drauf bauen)
schändlichen Wohlverstands
schales Ernüchtern …
Sweta sehnte sich nach Lew. »Aus irgendeinem Grund habe ich Dich die ganze Woche in meinen Träumen gesehen«, schrieb sie ihm am 5. März. »Das machte mich durchaus nicht glücklich, denn obwohlich Dich sehen konnte, vermochte ich Dich nicht zu berühren (Alik sagt das Gleiche über Gott, dessen Existenz er anscheinend für vorstellbar hält),
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