Schicksal aus zweiter Hand
Untersuchungen erinnerte, bekam er von dem SS-Gruppenführer eine ziemlich rüde Antwort.
»Was interessieren uns die Familienangelegenheiten der alten Sozis?«
»Es handelt sich immerhin um Kindesentführung. Um Kidnapping.«
»Unterlassen Sie die amerikanischen Ausdrücke, Dr. Werner! Wissen Sie, ob es nicht ein Racheakt war? Die verständliche Reaktion eines Arbeiters gegen die Methoden dieser gewissen Herren?«
»Es ging um die Erpressung von hunderttausend Mark!«
»Hätte der Buckow ja leicht zahlen können!« Der SS-Gruppenführer sah auf Dr. Werner herunter. »Noch etwas, Herr Kriminalkommissar?«
»Nein, Herr Präsident.«
»Gruppenführer, bitte.«
»Herr Gruppenführer.«
»Danke. Heil Hitler!«
»Heil!«
Dr. Werner verließ das große Dienstzimmer und schloß die Akte endgültig weg. Aber dieser Wegschluß bedeutete nicht, daß er sie vergaß. Die Tragik des Hauses von Buckow hatte er so unmittelbar miterlebt, daß es für ihn unmöglich war, mit einigen Allgemeinreden ein Verbrechen vergessen zu lassen, dessen schreckliche Auswirkungen zu seinen erschütterndsten Erlebnissen gehörten. Immerhin erkannte er die Leistung seines Gegners an, in Deutschland unterzutauchen, obgleich sein Name bekannt war, sein Bild in allen Dienststellen hing und sein Leben durch die Mitnahme eines Säuglings ungeheuer gehemmt war und deshalb dauernd in Gefahr, entdeckt zu werden.
Ganz privat, gewissermaßen als Freizeitgestaltung, recherchierte er weiter und verhörte die ehemaligen Bekannten und Arbeitskameraden Frank Gerholdts, sprach mit dem Leiter des Seemannsasyls und zwei Zimmerwirtinnen, bei denen Gerholdt kurze Zeit gewohnt hatte, bis ihm das Geld wieder ausging und er zurück ins Asyl wanderte, in diesen Sumpf, der ihn wie mit tausend Armen festzuhalten schien und immer wieder von einem Ausflug in ein anständiges Leben zurückriß in das Zwielicht einer Ansammlung gescheiterter Menschen. Langsam, aber stetig tastete er sich in alle Lebensgewohnheiten Gerholdts hinein, soweit er sie aus den Aussagen erkennen konnte. Wie ein Mosaik setzte er das Bild zusammen, Steinchen auf Steinchen, bis er zu erkennen glaubte, wie Frank Gerholdt jetzt weiterleben konnte, trotz Kind, trotz Verfolgung, trotz der Angst im Nacken, entdeckt zu werden.
Er war kein gewöhnlicher Verbrecher, das hatte Dr. Werner schon zu Beginn gesagt. Er war ausgeglitten, er war einmal im Leben in eine ganz große Gemeinheit hineingezogen worden, durch einen äußeren Umstand, den Dr. Werner nicht kannte. Dann aber, als der erste Schritt getan war, setzte er das Verbrechen systematisch und folgerichtig, mit einer eiskalten Logik weiter fort. Diese Konsequenz allen Dingen gegenüber, die einmal begonnen waren, hatte Dr. Werner aus allen Urteilen von Gerholdts Bekannten herausgehört: Er hatte Charakter … Charakter im Guten wie jetzt auch im Verbrechen. Es klang merkwürdig, fast scheußlich, aber es war so: Gerholdt war ein Verbrecher mit Charakter geworden, der seine Tat ebenso innerlich verarbeitete wie etwa eine große Liebe oder einen nachhaltigen seelischen Schmerz. Was er tat, tat er gründlich. Er ging in seinen Handlungen auf. Das war vielleicht auch der Schlüssel zu dem bisherigen Geheimnis, daß Gerholdt samt Kind wie von der Erde verschwunden war, eine völlige Novität in der Geschichte des Kindesraubes.
Dr. Werner, der alle Kapitalfälle in einem gewissenhaften privaten Tagebuch aufzeichnete, schrieb an diesem Abend in das dicke Heft:
»Das Neue an dem Fall Gerholdt ist, daß er nicht, wie alle bisher bekannten Kidnapper, sich des Kindes einfach entledigte, als er einsah, daß seine Forderung von hunderttausend Mark nie erfüllt werden konnte. Er setzte das Kind weder aus, noch tötete er es, noch gab er einen Hinweis, wo man es finden könnte. Im Gegenteil – er tauchte mit dem Kind unter, er scheint es rührend zu pflegen und für es zu sorgen. Völlig abseitig aller bisherigen Erkenntnisse über die Mentalität der Kindesräuber, die lediglich einen materiellen Zweck mit ihrer abscheulichen Tat bezweckten, hat bei Gerholdt anscheinend der Kindesraub zu einer merkwürdigen Kindesliebe geführt, vor allem nach Bekanntwerden des tragischen Todes der beiden Eltern. Vielleicht ist das der Grund seiner Sorge um das Kind: ein plötzliches Schulderwachen, eine innerliche Verpflichtung, ein Anfall von Sühne, der sehr gut in das psychologische Bild paßt, das wir von Gerholdt gewonnen haben: er hat trotz aller Schlechtigkeit
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