Schicksal aus zweiter Hand
nicht! Im Gegenteil – er vergoß Blut an einer völlig unschuldigen Stelle. Er ließ zu, daß man Unschuldige verurteilte. Gäbe es einen Gott, hätte er da eingegriffen! Aber nichts geschah. Gar nichts!«
Dr. Schwab schüttelte den Kopf.
»Verzeihen Sie bitte meine Kritik, aber Sie haben eine merkwürdig primitive Ansicht von der göttlichen Wirksamkeit. Gott zum Duell rufen! Glauben Sie, er läßt sich auf so etwas ein? Er wird Ihnen seine Macht zeigen, wenn Sie am wenigsten daran denken. Wenn Sie glauben, der strahlende Sieger zu sein. Gott hat Zeit, viel Zeit – – –«
Gerholdt öffnete das Fenster. Vom Rhein herüber wehte der Frühlingswind. Auf den Wiesen blühten die Krokusse. Schleppkähne, tief geladen mit Ruhrkohle, stampften den Rhein hinauf. Etwas unterhalb der Fabrik schaukelte ein mächtiger Bagger im Wasser und schaufelte den Rheinsand aus dem Flußbett. Es war warm in der Sonne.
»Sie reden wie ein Pastor, Dr. Schwab. Sie avisieren mir Gottes Bannstrahl – – – ich wüßte nicht, warum.«
»Sie sagten doch eben selbst – – –«
»Ich spielte mit Ideen, Dr. Schwab. Ich rechnete mit Annahmen. Kleiner philosophischer Seitensprung … das war alles.« Gerholdt winkte lächelnd ab. »Zu Ihren Versuchsreihen zurück, Dr. Schwab: Wann können wir mit der Produktion beginnen? Noch einmal bekommen wir keine Million geliehen. Berlin will Erfolge sehen.«
»Wir können den ersten Abstich in vierzehn Tagen wagen, Herr Gerholdt.«
»Ohne uns zu blamieren?«
»Ohne, Herr Gerholdt.«
»Na, dann viel Glück.« Er gab Dr. Schwab die Hand und ging hinaus in den Hof. Dort stieg er in seinen Wagen und fuhr den Rhein hinauf bis zu der Baustelle, auf der sein Landhaus entstand. Das Kellergeschoß wuchs schon aus der Baugrube – es ruhte, des Grundwassers wegen, in einer riesigen Betonwanne, die es vor der Feuchtigkeit abschirmte.
Den ganzen Vormittag verbrachte er auf der Baustelle. Meistens saß er auf einem Steinhaufen in der Nähe des Rheines und sah zu, wie die Mauern unter den Händen der Maurer emporwuchsen.
Eine Fabrik … ein großes Haus … ein Patent, das uns Millionen einbringen kann … alles für Rita! Was konnte ihm noch geschehen? Er hatte das Schicksal besiegt. Er war der Stärkere geblieben. Einen Augenblick hatte er den Gedanken, stolz auf sich zu sein. Aber dann verwarf er ihn wieder. Stolz ist die Wiege des Mißerfolges, Demut ist das Gift des Unterdrücktwerdens … nur Härte ist die Leiter zum Erfolg. Härte gegen sich selbst und gegen alles. Eine dämonische Philosophie, aber sie gefiel Frank Gerholdt und gab seinem Aufstieg recht.
So unnahbar er in seiner Fabrik war, so weich wurde er zu Hause, wenn er Rita sah. Sie lebte in einer sorglosen Welt von Freude und Erfüllung aller Wünsche, umsorgt von einem Kindermädchen, umgeben mit Spielgefährtinnen, die Gerholdt genau aussuchte und bestimmte, damit nicht der geringste Makel in das Leben Ritas trat.
Die erste Wohnung hatte er aufgegeben und eine leerstehende Villa in Lindenthal gemietet. Dort konnte Rita im Garten spielen. Er ließ einen riesigen Sandkasten zimmern und mit goldenem Rheinsand füllen, er stellte eine Wippe auf, eine Schaukel, ein Karussell … an ihrem vierten Geburtstag kaufte er ihr sogar ein Shetlandpony und ein buntes Wägelchen. Wenn die Sonne schien, fuhren dann Rita, ihre Freundinnen und das Kindermädchen mit dem Pony und dem Wägelchen durch den großen Garten oder hinaus über die Wege des Kölner Stadtwaldes, vorbei an den Weihern mit den Schwänen und den herrlichen, künstlich angelegten Wäldern.
Oft stand dann Gerholdt am Eingang des Hauses und verging vor Freude und Glück, wenn er Rita jauchzend zurückkommen sah, die Zügel in den kleinen Händen, eine kleine Herrin, der die ganze, herrliche Welt gehörte … durch ihn, durch Frank Gerholdt, der ein zweites Schicksal aufbaute, nachdem er das erste zerstört hatte.
Ritas Krankheit machte keine Sorgen mehr. Zwar nahm sie noch täglich dreimal ihre Medizin, aber es schien, als ob der große Blutaustausch die blutbildenden und bluterneuernden Organe des Körpers angeregt hätte, selbst normal zu arbeiten und dem kleinen Körper die nötige Lebenskraft zu geben. Zwar war Rita immer noch blaß, eine Art Anämie ließ sich nicht ganz entfernen – – – aber das Blut zersetzte sich nicht mehr und regenerierte sich von selbst.
Von Irene Hartung sprachen sie nicht mehr. Im ersten Jahr nach ihrem Tod fragte Rita noch ein paarmal nach der
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