Schicksal aus zweiter Hand
Mutti. Dann erzählte Gerholdt wieder mit stockender Stimme von den Engeln des lieben Gottes und von Mutti, die dort oben sei und alles mit ansehe, was auf der Erde geschieht. Nach einem Jahr verblaßte auch das Bild Irenes bei Rita, und nach zwei Jahren erinnerte sie sich kaum noch an sie und wandte sich anderen Dingen zu, die greifbar waren und Leben bedeuteten.
Von Herrn Berger hörte Gerholdt nichts mehr. Nach dem Mord an Petermann und der Verurteilung der beiden geständigen Kommunisten zum Tode durch das Fallbeil hielt es Herr Berger für angebracht, sich still von allen diesen Dingen zurückzuziehen und nicht mehr an das Gestern zu denken. Die letzten telefonischen Worte Petermanns hatten eine tiefe Nachdenklichkeit bei ihm erzeugt. Dieser Frank Gerholdt schien stärker zu sein, als man bisher angenommen hatte. Wenn Petermann in seiner rüden Art versagte, war auch das Feld für einen Herrn Berger zu steinig, um darauf zu pflügen und zu säen. Der Mord schließlich – an die Kommunisten glaubte Herr Berger ebensowenig wie die Gestapo selbst – überzeugte ihn vollends, sich aus allem herauszuhalten. Er wechselte sogar die Stellung und wurde Produktionsdirektor eines süddeutschen Stahlwerkes.
Frank Gerholdt erfuhr es aus einer kleinen Meldung im Fachblatt der Stahlindustrie. Es wunderte ihn nicht, daß nun der letzte Gegner aus seinem Gesichtskreis gegangen war. Er hatte es sich abgewöhnt, sich noch über etwas zu verwundern. Das Schicksal schien weich geworden zu sein vor seiner Härte. Es erfüllte alle Wünsche, selbst die heimlich gedachten.
Mit dem Beginn der Schulpflicht Ritas begann für Gerholdt eine neue Sorgenzeit. Die Schulbehörde verlangte die Geburtspapiere Ritas, das Impfzeugnis, den Taufschein.
An einem Abend stellte sich Gerholdt hinter den Kölner Hauptbahnhof an die Straße. Dort, wo die kleinen winkligen Gassen münden, in der Nähe der großen Überführung, stand er, bis ihn ein Mann mit einer Schirmmütze ansprach.
»Wie ist es mit 'ner kleinen Dose Schnupftabak?« fragte er vorsichtig. Gerholdt lächelte.
»Behalte deinen Koks für dich, mein Junge.«
»Ach – vom Fach?«
»Nicht ganz. Ich suche Papiere.«
»Was?«
»Papiere! Geburtspapiere, Impfschein, Taufschein, Trauschein, Todesschein … alles!«
»Das ist ein dicker Hund.« Der Mann mit der Schirmmütze kratzte sich den Kopf. »Sehr schwer, mein Sohn. Sehr schwer.«
»Du kriegst fünfhundert Mark!«
»Für die Vermittlung?«
»Ja.«
»Will mal sehen. Komme übermorgen wieder. Um acht Uhr abends. Aber mit den Piepen!«
»Auf mein Wort.«
Vier Tage später besaß Frank Gerholdt die besten und naturgetreuesten Papiere. Sie bekundeten schwarz auf weiß, daß Rita Gerholdt in Köln geboren war, die Mutter gestorben sei und das Kind in der Antoniter-Kirche getauft worden war. Ohne Erfolg zweimal geimpft. Papiere, die keiner anzweifelte, die zerknittert waren, so, wie Originaldokumente nach Jahren auszusehen pflegen.
Sie kosteten Gerholdt bare zweitausend. Aber mit ihnen gewann er Rita ganz für sich. Es gab jetzt keine Klippe mehr, die sich in den Strom seines Lebens schob. Die Zukunft war frei …
Der erste Abstich der neuen Stahllegierung war ein voller Erfolg. Die Druck- und Zerreißproben bestätigten die Berechnungen Dr. Schwabs. Im Wirtschaftsministerium in Berlin wurde Gerholdt in Sonderaudienz empfangen. Der deutschen Wiederaufrüstungsproduktion, die heimlich bereits angelaufen war, eröffneten sich neue Möglichkeiten. Es war wieder einer der großen Glücksumstände, daß die Stahlveredelung der Niederrheinischen Stahlwerke als geheim bezeichnet wurde und der Name Gerholdts nie in die Presse kommen würde. Die Anonymität seines Daseins wurde von Staats wegen gefördert. Nur noch wenige Jahre, und die Hamburger Delikte Gerholdts waren verjährt. Dann war er wirklich ein freier Mann und hatte den Letzten nicht mehr zu fürchten, der wie er in der grauen Masse lebte und nicht vergessen konnte, was einmal geschehen war: Dr. Werner.
Ab und zu hörte Gerholdt von ihm. Ein Mord im Hafen, ein Raubmord an einem Taxifahrer, ein Eifersuchtsdrama in Altona … dann kehrte der Name Dr. Werner in der Presse wieder. Für ein oder zwei Tage nur … aber es genügte, um Gerholdt zu sagen, daß sein ärgster Feind noch lebte und weiterhin die Jagd nicht aufgab.
An einem Abend – es war im Jahre 1937 – trafen sich in Hamburg der ehemalige, jetzt pensionierte Polizeipräsident von Hamburg und Kriminalrat Dr. Werner
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