Schicksal des Blutes
Montag, dem 2. Mai entlassen worden, kurz nach seinem 50. Das hatte sie vollkommen verdrängt. Sie war sich nicht im Klaren darüber, inwieweit er zu Handgreiflichkeiten neigte, um an Geld zu kommen. Fünfzehn Jahre Knast hatten ihn bestimmt verändert. Sie hoffte, zum Guten. Aber im Endeffekt war es ihr egal, denn sie hatte noch nie viel mit ihm zu schaffen gehabt.
Amy gähnte herzhaft, trat in den Flur und gab den Code an der Tür zu ihrer Wohnung ein.
Plötzlich flogen beide Flügel der Rundbogentür auf. Sie stolperte rückwärts und krachte mit dem Rücken an die Wand. Männerstimmen erteilten scharfe Befehle. Handschellen klickten um ihre Gelenke und wurden straff zugezogen.
„FBI! Amy Evans, wir nehmen Sie in Gewahrsam. Sie haben das Recht …“
Amys Knie wollten nachgeben. Es kostete sie nach dem Schock ihre verbliebene Kraft, nicht vor den Beamten zusammenzubrechen. Wo um alles in der Welt steckte Nyl?
Wie einem Schwerverbrecher las man ihr ihre Rechte vor und transportierte sie in einem Van ab. Nun saß sie in einem typischen, kargen Verhörraum, vor ihren immer noch in Handschellen gefesselten Händen ein weißer Pappbecher mit einer dunkelbraunen Plörre, die als Kaffee durchgehen sollte. Sie fühlte sich bereits wie durch die Mangel gedreht, obwohl sie bisher niemand befragt hatte. Dennoch versuchte sie, ein leidenschaftsloses, ernstes und waches Gesicht aufzusetzen. Man beobachtete sie, das war klar. Sie sollte sich Gedanken machen, was sie denen am besten sagte, warum sie vor einigen Tagen geflohen war, wo sie war, doch ihre Gehirnmasse kreiste nur um die Frage, wo Nyl abgeblieben war. Hatte es tatsächlich einen Verfolger gegeben? Hatte er Ny’lane überwältigen können? Eher unwahrscheinlich … Hoffentlich! Aber wo war er dann bloß? Der Mistkerl hatte doch keine Angst vor den Bullen. Oder doch? Amy zwang sich, nicht das Kinn aufzustützen, obwohl an ihrem Kopf die gesamte Welt zu hängen schien. Als wenn sie in der vergangenen Woche nicht genug durchgemacht hätte, aber davon konnte sie den Herren vom FBI wohl kaum ein Sterbenswörtchen erzählen.
Das Chaos in ihrem Schädel machte sie fertig und sie überwand sich, den Kaffee Schluck für Schluck zu trinken. In einem Verhör war sie noch nie gefallen, sie hatte immer nur das ausgesagt, was sie aussagen wollte. Egal, wie mies sie sich fühlte. Und es war ihr schon weitaus schlechter gegangen. Jawohl! Aber die dämliche Warterei ging ihr auf den Zeiger. Sie war sich bewusst, Ruhe bewahren zu müssen, doch sie hatte sich so auf Fire gefreut. Sie hatte Cira und Jonas von den neuen, schrecklichen Erkenntnissen über den Nephilim erzählen wollen, und wenn das uralte Manuskript von Ny’lanes Opa Yohaness die Wahrheit enthielt, würden in nur zwei Tagen unendlich viele Frauen in der ewigen Verdammnis schmoren, also voraussichtlich unschuldig sterben. Amy kam unvermittelt Galle hoch und sie schluckte schwer. Ihr schwindelte und sie schloss die Augen. Nein! Sie hatte im Traum halb tot nicht mit irgendwem gesündigt. Das war völliger Nonsens. Schweiß trat ihr auf die Stirn und sie biss die Zähne zusammen. Konzentriere dich! Bleib locker! Es gibt Wichtigeres! Beinahe widerwillig öffnete sie die Lider, weil sie ein Geräusch aus Richtung Tür hörte.
Amy blinzelte, doch das Trugbild blieb. Ein hochgewachsener, kräftiger Mann stand im Türrahmen. Er trug einen schwarzen Anzug über dem athletischen Körper, der dunkelrote Schlips war akkurat über dem weißen Hemd gebunden. Amy bemühte sich, sich nicht zu räuspern, ihren raschen Herzschlag zu beruhigen, obwohl ihr der Blick auf ihre Halsschlagader nicht entging. Sogar im Zweireiher sah Nyl aus wie ein eleganter Triathlet. Aber dem Himmel sei Dank war er endlich da!
Nyl wandte sich einem Beamten zu. „Nehmen Sie ihr bitte die Handschellen ab.“
Wie in Trance hielt Amy dem FBI-Agenten die Arme entgegen und rieb sich befreit die Gelenke. Ein weiterer Mann mit grauen Schläfen betrat den Verhörraum. Er sah nicht glücklich aus.
„Ihr Anwalt konnte alles für Sie regeln, Ms. Evans. Alle Anklagen wurden fallengelassen. Dennoch bitten wir Sie, das Land nicht zu verlassen und uns weiterhin für Fragen zur Verfügung …“
„Sicher wird sie das“, unterbrach Ny’lane im barschen Ton und half ihr galant auf. Erst jetzt spürte sie, wie weich ihre Knie waren. Sie stützte sich auf Nyls Arm und drückte den Rücken durch.
„Selbstverständlich werde ich das. Guten Tag.“
Kaum auf
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