Schicksal des Blutes
gegen das gezügelte Leben ohne Rausch und ohne Macht. Ich pflanzte Samen des Hasses in die jungen Köpfe der oft willenlosen Junkies. Ich fühlte mich nicht nur wie Gott, ich war Gott. Beinahe zwanzig Jahre lang lebte ich wie in Ekstase, daher auch der Name meines florierendsten Klubs. Ich steigerte mich in die Sucht nach weiblichem Blut, setzte mich unter Alkohol und harte Drogen und taumelte mit Hochgefühl durch die Begeisterung der Massen, die mich emportrugen, verehrten, vergötterten als ihren ‚Silver Angel‘. Ich ließ mich blenden, um nicht nachdenken zu müssen. Ich betäubte mich mit allem, was ging. In Wahrheit trauerte ich um mein früheres Leben, um Elisabeth, aber am meisten wohl um mich selbst.“
Amy fiel es schwer, weiterzuatmen. Gebannt sah sie in Nyls Gesicht, das mit jedem Wort an Härte zu verlieren schien. Oder es kam ihr nur so vor, weil er sein verschlossenes Herz für sie öffnete? Weshalb bloß erleichterte man sich erst das Leben, wenn man kurz vor dem Tode stand?
„Um 1943 drängten sich mir Zweifel auf, die immer hartnäckiger an meinem berauschten Gehirn zerrten. Ich begann, mich zurückzuziehen. Je klarer mein Denken wurde, desto mehr marterte mich, was ich mit meinen Blutklubs und Hetzreden angestellt hatte. Ich kam an den Punkt, den auch Jonas als Tribor erreichte. Skrupel, Reue und Hass auf mich fraßen mich auf. Ich hungerte, reizte meine Sucht, sich mit mir anzulegen. Auf einer fernen Tour traf ich 1945 auf Jonas, der seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Sein reines Blut witterte ich auf Meilen, ebenso seine Schwäche.“
Nyl sah auf ihre Knie, wo sich seine und ihre Finger verbanden. Weiß in Schwarz verschlungen. „Jonas rettete mir das Leben, weil sein Blut für mich eine Bestimmung in sich trägt, sonst wäre es aus meinem Kreislauf verschwunden. Er war mein Schicksal und veränderte mein Dasein. Ich hasste meine Macht und gab sie in diesem Moment auf. Gegen die Sucht konnte ich nichts unternehmen, doch gegen alles andere.“ Nyl nahm die Sonnenbrille ab. „Ich verkaufte meine Klubs, bis auf das ‚Ekstase‘, an Bliss di Mandrel, ohne zu wissen, was für ein Scheusal er ist und begab mich auf die Reise, all diejenigen zu besuchen, denen ich meine falschen Predigten und meine schlechten Gedanken über ihre Augen und ihre Ohren ins Gedächtnis gepflanzt hatte.“
Amy atmete tief durch. Deshalb war Ny’lane so viel gereist, hatte keinen festen Wohnsitz und schien wie ein Schatten zu leben. Er versuchte seit Dekaden, seine früheren Fehler wiedergutzumachen. Nyls Finger legten sich auf ihre Wangen und er sah sie an. Amy schnappte vor Schreck nach Luft. Seine schwarzen Iris waren verschwunden. An ihrer statt umrahmten matte, silberne Iris silbrige Pupillen, die sich nur spärlich von dem Weiß in seinen Augen unterschieden. In ihr zog sich alles schmerzlich zusammen und sie öffnete den Mund, ohne etwas sagen zu können.
„Die von dir prophezeite Kehrseite, Amy. Es gibt wohl keine Gabe, die sie nicht in sich trägt, wenn man sie missbraucht. Ich las Erinnerung um Erinnerung in unzähligen Köpfen, um diejenigen zu finden, die ich manipuliert hatte. Gedächtnis um Gedächtnis veränderte ich, machte rückgängig, was sie durch mich fälschlich als Wahrheit erfahren hatten. Schnell bemerkte ich, das Lesen von aktuellen Gedanken schadete mir nicht, aber das Eindringen in Vergangenes. Mit jeder zurückliegenden Erinnerung, die ich las, verschlechterte sich mein Augenlicht.“
„Verflucht!“, stieß Jonas aus.
Amy zuckte zusammen, sie hatte alles völlig ausgeblendet. Sie hatte nicht mehr wahrgenommen, dass sie sich in dem engen Cockpit befanden. Nur noch Ny’lane, der wie ein Fels in der Brandung vor ihr kniete, seine Finger an ihrer Wange und ihren Händen. Auch jetzt, wo sich Nyl an Jonas wandte, sah er sie weiterhin mit den hellen Augen an.
„Jonas, du hast mir mein Leben zurückgegeben und bist mir nichts schuldig. Jedes Mal, wenn du mich batest, die Erinnerungen von jemandem zu lesen, hast du es niemals aus Eigennutz getan, sondern um anderen zu helfen oder lebenswichtige Erkenntnisse zu gewinnen. Ich hätte es so oder so getan.“
Jonas wirkte geschockt. „Das Baby, vor ein paar Wochen, im Kinderwagen?“
„Ja. Ein Kindeskind eines von mir schändlich beeinflussten Mannes.“
„Du wusstest, du würdest bald erblinden“, brachte Amy nur zögerlich und leise hervor. „Und trotzdem hast du beim FBI all die Menschen …“
„Ja, die Beamten und jetzt
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