Schicksal!
Aber das wird grundsätzlich nicht gern gesehen – seit dem Helden-Wahn und dem Fiasko mit Jeanne d’Arc.
Regel Nummer 6 : Mach dich niemals vor Menschen unsichtbar.
Andererseits könnte ich versuchen, ihm die Sache auszureden. Könnte ihm erklären, dass es nicht zu spät ist, dass er immer noch etwas aus sich machen kann. Selbst wenn das für ihn bedeutet, dass er wie vorgesehen bei den städtischen Abwasserbetrieben arbeiten muss. Doch das hieße, einzugreifen. Sich einzumischen.
Also wähle ich einen anderen Weg.
»Fick dich«, sage ich.
»Was?«, fragt er.
Verhandlungsgeschick hat noch nie zu meinen starken Seiten gehört.
»Fick dich«, wiederhole ich und gehe einen Schritt auf ihn zu. Er weicht genauso weit zurück, hält jedoch weiterhin das Stilett vor sich.
»Leg dich nicht mit mir an«, warnt Nicolas mich und hält die Stellung. »Ich stech dich ab. Ich schwör bei Gott, ich stech dich ab.«
»Dann stich mich ab«, erwidere ich und trete noch einen Schritt vor, um seinen Bluff auffliegen zu lassen und ihn zu zwingen, Farbe zu bekennen.
Körperlich ist Nicolas Jansen absolut in der Lage, Leute zu bedrohen und sie zu bestehlen, um sich mit den Früchten seiner Arbeit Drogen zu besorgen und den Schädel wegzudröhnen. Aber er ist kein gewalttätiger Mensch. Und er ist mit ziemlicher Sicherheit kein Mörder.
»Ich mach das«, beharrt er, allerdings ohne viel Überzeugung.
»Hier«, sage ich und wedele mit meiner Brieftasche vor seiner Nase herum. »Hol sie dir, wenn du den Mumm dazu hast.«
Sein Blick wandert zwischen der Brieftasche und mir hin und her. Ich kann die Unsicherheit in seiner Miene erkennen, kann förmlich sehen, wie die Verwirrung in Wogen von ihm abstrahlt. Und ich weiß, dass er nur Sekunden davon entfernt ist, sich umzudrehen und zu entdecken, dass ein Leben als Arbeiter bei den Abwasserbetrieben nicht das Schlechteste ist.
Vielleicht liegt es daran, dass ich einen weiteren Schritt auf ihn zugehe. Oder daran, dass ich die Dreistigkeit besitze, ihm zu zeigen, wie viel Geld sich in der Brieftasche befindet. Oder daran, dass ich ihn einen rückgratlosen Waschlappen nenne. Vielleicht habe ich ihn auch einfach nur falsch eingeschätzt.
Bevor ich reagieren kann, rammt Nicolas Jansen mir sein Stilett in die Brust, reißt mir die Brieftasche aus der Hand und rennt in Richtung Oudezijds-Achterburgwal-Kanal davon, wo er kurz darauf mit dem Strom der Nachtschwärmer verschmilzt. Mich lässt er zum Sterben allein in den Schatten der Gasse zurück.
8
E s ist peinlich genug, in einer Gasse in Amsterdam von einem Sterblichen mit Drogenproblemen ausgeraubt und niedergestochen zu werden. Das Ganze wird allerdings dadurch noch schlimmer, dass man nicht mehr teleportieren kann, sobald ein Menschenanzug ein Loch hat. Statt die Reise in Einheit anzutreten, kann es einem nämlich mit einem defekten Menschenanzug passieren, dass man durch die Öffnung herausschlüpft, seine leere Hülle zurücklässt und damit eine Menge Schwierigkeiten verursacht. Na klar,
Hysterie
und
Verschwörung
bekommen dann etwas zu tun. Aber das Letzte, das wir gebrauchen können, ist, dass die Menschen herausfinden, dass jemand unter ihnen weilt, der sie nachahmt.
Das ist schon einmal passiert, kurz nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches gegen Ende des fünften Jahrhunderts. Die Konsequenzen waren derart katastrophal, dass
Erinnerung
für eine Notüberholung rausgeschickt werden musste, deren Folgen die nächsten fünfhundert Jahre hindurch nachwirkten. Die menschliche Rasse bezeichnet diesen Abschnitt im Allgemeinen als das finstere Mittelalter. Unter den Unsterblichen läuft sie aber unter »Jerrys Totalausfall«.
Da ich also nicht an weiteren fünfhundert Jahren Unterdrückung in der Geschichtsschreibung und in der Darstellung kultureller Erfolge schuld sein will, muss ich einen anderen Weg finden, um nach New York zurückzukehren. Leider kann ich ohne Brieftasche, Ausweis oder auch nur Fingerabdrücke zur Bestätigung meiner Identität weder ein Flugzeug besteigen noch mich auf einem Kreuzfahrtschiff einbuchen – selbst dann nicht, wenn ich das Geld hätte, um das Ticket zu bezahlen.
Also bin ich zu drastischen Maßnahmen gezwungen.
»Autsch!«, schreie ich, als die Nadel meine Haut durchdringt und den Faden hinter sich hindurchzieht.
Auch wenn wir nicht getötet werden können, spüren wir sämtliche Empfindungen durch unseren Anzug aus menschlichem Fleisch. Hitze. Freude. Schmerz. Und das hier
Weitere Kostenlose Bücher