Schicksal!
fühlt sich wie Schmerz an.
»Sei still«, zischt
Verschwiegenheit.
»Jemand könnte dich hören.«
»Es tut weh«, sage ich. »Hättest du mir nicht wenigstens eine örtliche Betäubung verpassen können?«
»Du hast Glück, dass ich überhaupt aufgetaucht bin«, erwidert sie und durchbohrt meine Brust ein weiteres Mal mit mehr Enthusiasmus, als mir lieb ist. »Hast du eigentlich eine Ahnung, in was für Schwierigkeiten mich das hier bringen kann?«
Um es auf den Punkt zu bringen:
Verschwiegenheit
ist paranoid.
Wir sitzen auf einem Bett im zweiten Stockwerk des Victoria Hotels, ungefähr einen halben Kilometer entfernt von der Stelle, an der ich niedergestochen wurde. Die Gardinen sind zugezogen, die Türen abgeschlossen, und ich durfte nicht einmal flüstern, bis
Verschwiegenheit
den Raum nach Wanzen abgesucht hatte.
»Autsch«, sage ich wieder.
»Du nimmst das doch nicht auf, oder?«, fragt sie.
Sie ist immer noch sauer auf mich. Wegen Watergate.
»Das lag nicht in meiner Hand«, entgegne ich. »Ich habe sie nicht dazu gezwungen, ihre Geheimnisse preiszugeben. Sie sind unter dem politischen Druck zusammengebrochen. Es war ihr Schicksal.«
Sie schüttelt mürrisch den Kopf. »Wie auch immer. Wenigstens haben Woodward und Bernstein sich einigermaßen aufrichtig verhalten.«
Ich kenne
Verschwiegenheit
seit ungefähr sechstausend Jahren. Davor gab es nicht allzu viele Geheimnisse zwischen den Menschen – sie haben höchstens Essen voreinander versteckt. Oder masturbiert. Unsere Wege haben sich mehr als einmal gekreuzt, und sie kam sich jedes Mal ausgebootet vor. Es hat ewig gedauert, bis sie über die Sache mit Judas hinweg war, aber schließlich hat sie eingesehen, dass das die beste Lösung war.
Verschwiegenheit
näht weiter an mir herum und macht dabei ein paar Extrastiche: Entweder will sie sichergehen, dass ich nicht auslaufe, wenn ich nach New York zurückreise. Oder sie genießt es, mich schreien zu hören.
»Das sollte reichen«, meint sie, als sie fertig ist.
»Sicher?«, frage ich und betaste die faltigen Narben auf meiner Brust.
»Nein«, antwortet sie. »Aber du kannst gern noch jemanden herbeirufen, wenn du auf einer zweiten Meinung bestehst.«
Verschwiegenheit
war die Einzige, die ich anrufen konnte, weil ich mich bei ihr nicht ständig fragen muss, ob sie jemand anderem von der ganzen Sache erzählt. Das Problem ist nur: Obwohl man ihre Verschwiegenheit nicht kaufen muss, hat sie trotzdem ihren Preis.
»Danke«, sage ich. »Was schulde ich dir?«
Ihre Nähkünste kann ich allerdings genauso wenig bezahlen wie das Hotel, da meine Kreditkarte ja mit dem Rest meiner Brieftasche verschwunden ist. Um das Zimmer hat
Verschwiegenheit
sich dann gekümmert. Natürlich hat sie bar bezahlt.
Aber Geld steht hier nicht zur Debatte.
Verschwiegenheit
legt einen Zeigefinger auf den geschlossenen Mund und macht: »Hmm.«
Ich kann ihr deutlich ansehen, dass das nur Show ist. Sie weiß genau, was sie will.
Verschwiegenheit
macht sich nichts aus materiellen Dingen oder jenseitigen Gütern. Auch für Sex interessiert sie sich nicht sonderlich, obwohl sie leidenschaftliche Affären mit
Integrität
und
Ambition
gehabt hat. Vergeltung ist nicht ihr Ding, und sie will auch niemanden bloßstellen. Das Einzige, für das sie sich interessiert, sind geheime Angelegenheiten.
Menschen, deren Schicksal es ist, ihre Geheimnisse auszuplaudern.
Tratschtanten.
»Ich will den Roswell-Zwischenfall.«
»Den Roswell-Zwischenfall?«
Ich hätte gedacht, sie würde nach dem Kennedy-Attentat oder dem Tod von Marilyn Monroe fragen. Oder danach, was mit Jimmy Hoffa passiert ist. Verdammt, ich wäre sogar bereit gewesen, auf die Freimaurer und selbst auf den Heiligen Gral zu verzichten. Aber auf den Roswell-Zwischenfall?
»Und Area 51 «, fügt sie hinzu.
»Och, komm schon«, sage ich. »Das ist nicht fair.«
»Niemand kann mir vorschreiben, dass ich dein kleines Malheur mit dem Menschenanzug für mich behalte«, setzt sie dagegen.
Mir fällt kein Gegenargument ein. Trotzdem: Roswell
und
Area 51 auszuposaunen bringt mich an den Rand der Verzweiflung. Andererseits wäre es ein Riesenspaß, wenn die wahre Geschichte hinter diesen beiden Geheimnissen je ans Licht der Öffentlichkeit käme – es wäre bestimmt lustig zu beobachten, wie die Menschen darauf reagieren und wie die Wahrheit ihre weiteren Schicksale beeinflussen würde. Es geht doch nichts darüber, lebenslang gehegte Überzeugungen anzugreifen und ein
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