Schicksal!
oder religiöse Bilder.
Wenn man schließlich das ehemalige Bergners erreicht, in dem jetzt der Hauptvortragssaal untergebracht ist, blickt man in einen weiten Raum voller Metallklappstühle mit Sitzen aus Vinyl, von denen weniger als zwei Dutzend belegt sind. Ein Prediger in Straßenkleidung steht auf dem Podium neben einem Overheadprojektor und einer drei Meter großen Leinwand, auf der er mit einem Flussdiagramm die Beziehung Gottes zu Jesus erläutert.
Die meisten der nicht ganz zwei Dutzend Gläubigen tummeln sich in den vorderen fünf Reihen. Niemand sitzt direkt neben jemand anderem. Die versammelte Gemeinde besteht aus fünf Ehebrechern, vier Alkoholikern, drei unzufriedenen Hausfrauen, zwei Highschoolabbrechern, einem Pädophilen, einem Ladendieb, einem Drogendealer, einem Größenwahnsinnigen und zwei Männern, die beim Sex zu früh kommen.
Ich setze mich neben den Größenwahnsinnigen, der in der hintersten Reihe Platz genommen hat und frische Feigen aus einem Beutel isst, während er sich die Präsentation ansieht. Er trägt einen weißen Wollmantel. Neben ihm auf dem Boden stehen zwei Tüten mit Souvenirs und Geschenken.
»Weihnachtseinkäufe?«, frage ich und versuche, locker zu klingen.
»Nur ein paar Kleinigkeiten für die Mädchen im Büro«, erwidert Jerry und wirft sich eine weitere Feige ein, ehe er mir den Beutel hinhält.
»Nein danke«, gebe ich zurück.
Ich habe gerade keinen großen Appetit. Das ist nicht besonders verwunderlich angesichts der Tatsache, dass Jerry mir heute Morgen per SMS mitgeteilt hat, dass er mich sehen wolle. Jetzt.
Ich frage mich, warum er mich hierher statt in sein Büro bestellt hat.
Falls er mich zusammenstauchen will, wäre sein Büro jedenfalls viel abgeschiedener als das hier. Und viel einschüchternder. Jerry steht nicht so darauf, jemandem in der Öffentlichkeit eine Szene zu machen oder Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Auf dem Podium sagt der Prediger, dass der Weg zu Gott über Jesus führt.
»Der Typ ist furchtbar«, meint Jerry. »Ich bin fast versucht, ihn zu zerschmettern. Allein aus Prinzip.«
Anscheinend ist Jerry heute nicht gerade gütig gestimmt.
»Also«, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln, das sich so unecht und konstruiert anfühlt wie die Fortsetzung eines Hollywood-Blockbusters, »weswegen wolltest du mich sehen?«
»Nun, was meinst du? Weswegen sollte ich dich sehen wollen?«, fragt Jerry und schiebt sich noch eine Feige in den Mund. Ich hasse es, wenn er sich so zugeknöpft gibt. »Wie wäre es damit für den Anfang?«
Auf der drei Meter hohen Leinwand erscheint ein Bild von mir. Unscharf. Aufgenommen mit einem Handy. In einem Einkaufszentrum in Kalifornien. Es bleibt für gute zehn bis fünfzehn Sekunden an der Wand, aber keiner der Menschen bemerkt es. Das ist einer von Jerrys Tricks. Ich weiß immer noch nicht, wie er das macht.
Auf dem Podium redet der Prediger davon, dass Gottes Wege und Wirken unergründlich sind.
»Und dann ist da noch das hier«, fährt Jerry fort.
Als Nächstes ist Cliff Brooks auf der Leinwand zu sehen. Das muss das »Vorher«-Bild sein, da er auf diesem Foto lächelt und die untere Hälfte seines Körpers noch nicht von Hunden zerfleischt wurde.
»Und das«, fügt Jerry hinzu.
Das lächelnde Gesicht von Cliff Brooks ist verschwunden. Stattdessen sieht man eine Aufnahme von George und Carla Baer. Allerdings lächeln sie nicht.
Sie sind beide tot. Erstickt. Stranguliert. An der Decke mit ledernen Fixierungen aufgehängt. Identische rote Ballknebel in den Mündern.
»Und das.«
Das nächste Foto zeigt Nicolas Jansen in seiner Mönchsrobe – kopfüber aufgespießt auf einem zwei Meter großen Zierkreuz.
Auf dem Podium erklärt der Prediger, dass Jesus für unsere Sünden starb.
»Du hast eine ganze Menge Mist gebaut, Sergio«, sagt Jerry, während weitere Bilder von toten Menschen in einer Diashow der Fehlschläge an mir vorüberziehen. Jedem von ihnen hatte ich zu helfen versucht. »Persönlicher Kontakt mit Menschen. Störung der menschlichen Pfade. Mehrere vorzeitige Todesfälle. Ganz zu schweigen von unerlaubter öffentlicher Dematerialisierung. Und mich zu imitieren bezeichne ich jetzt einfach mal als Amtsanmaßung.«
Auf dem letzten Bild ist wieder Cliff Brooks zu sehen. Es ist das »Danach«-Bild. Das Lächeln ist aus seinem Gesicht verschwunden, sein Bauch ist aufgerissen, mehrere halbverhungerte Greyhounds weiden ihn aus.
Ich starre die Leinwand an und bin so benommen, dass
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