Schicksalsfäden
die arme Gegend um Whitechapel. Er behandelte Victoria als Partner, Freundin und Geliebte, und sie genoss das Leben an seiner Seite in vollen Zügen.
Grant hatte sich mit viel Energie in seine neue Aufgabe als Polizeirichter gestürzt und dann festgestellt dass seine Arbeit wesentlich mehr Studium des Rechts beinhaltete, als er sich gedacht hatte. Umso froher war er, dass Victoria ihm abends in der Bibliothek half, einschlägige Literatur zu sichten, Gesetzestexte zu studieren und Präzedenzfälle herauszusuchen. Mit Hilfe seiner Frau nahm er die neue Herausforderung an und hatte schon bald den Ruf, ein strenger, aber gerechter Richter zu sein. Auch sein neuer Status als Sir verschaffte ihm schon bald eine gesellschaftliche Stellung, die weit über seine frühere Berühmtheit hinausreichte. Immer mehr Politiker fragten ihn um seinen Rat.
Auch Victoria fand ihren Platz in der Londoner Gesellschaft. Dabei ging sie sehr wählerisch vor, denn ihr ging es nicht ums Dabeisein, sondern um die Menschen, die sie traf und mit denen sie Freundschaften schloss. Und sie fand große Freude daran, mit Architekten und Innenausstattern Pläne für das neue Haus in Mayfield zu entwerfen. Sie engagierte sich auch in Wohltätigkeitsorganisationen und half ehemaligen Prostituierten und ihren Kindern. Die Arbeit befriedigte sie zutiefst auch wenn sie oft das Gefühl hatte, dass es nur ein Tropfen auf dem heißen Stein war und ihre Anstrengungen angesichts der Größe des menschlichen Unglücks, das sie sah, unbedeutend waren.
»So viele Menschen brauchen unsere Hilfe«, sagte sie eines Abends zu Grant. »Selbst wenn das Komitee noch so viel Geld sammeln kann, hilft es doch nur wenigen. Manchmal frage ich mich, warum wir das überhaupt alles machen …«
Grant nahm sie in die Arme, strich ihr eine störrische rote Strähne hinters Ohr und küsste sie auf die Stirn. »Aber genau darum geht es doch, Liebste. Darum, dass man es versucht. Weißt du, ich hab mich früher oft gefragt warum ich immer wieder meinen Kopf riskiere, um böse Menschen zu fangen, wenn es doch nie aufhört und immer wieder neue Verbrecher ein friedliches Leben für alle unmöglich machen.«
»Und warum hast du dann nicht aufgegeben?«
»Ich dachte mir, wenn ich auch nur ein Opfer verhindere, wenn ich auch nur ein Leben rette, hat sich meine Arbeit schon gelohnt.«
Victoria lächelte warm und nahm ihren Mann fest in die Arme. »Ich wusste es«, sagte sie, ihr Atem an seinem Hals, »ich wusste, dass du eigentlich ein Idealist bist.«
»Na, dich werd ich lehren, mich zu beleidigen«, rief er und küsste sie zur Strafe so lange, bis sie keine Luft mehr bekam.
Grant war so in die Untersuchung eines Falles vertieft, dass er das Klopfen erst gar nicht wahrnahm. Dann blickte er unwillig von seinem Schreibtisch auf und grummelte, verärgert über die Störung: »ja, was denn?«
Mrs. Dobsons Gesicht erschien im Türspalt. »Eine Dame wünscht Sie zu sprechen, Sir.«
»Mrs. Dobson, ich habe Ihnen doch klar und deutlich gesagt dass ich bis nach der Verhandlung heute Nachmittag nicht gestört werden will.«
»Natürlich, Sir, ich weiß, aber die Dame ist Lady Morgan.«
»Und warum lassen Sie sie dann warten? Bringen Sie sie gleich herein.« Nachdem Mrs. Dobson diee Türr mit einem Lächeln hinter sich geschlossen hatte, lehnte sich Grant mit entspanntem Gesichtsausdruck zurück. Victoria kam nicht oft aufs Revier, umso mehr freute er sich auf sie. Eine willkommenere Abwechslung von Verbrechen, Gewalt und Betrug konnte es für Grant nicht geben.
Die Tür öffnete sich wieder und da stand Victoria in. ihrer ganzen Schönheit. Sie trug ein blass rosafarbenes Musselinkleid mit hohem Kragen und langen, mit applizierten Rosen verzierten Ärmeln. Seidenbänder verliefen über ihre Taille und betonten ihre verführerische Figur. Grant wartete, bis Mrs. Dobson den Raum verlassen hatte, dann trat er auf seine Frau zu und küsste sie lange und innig.
»Ah!«, rief er, als er sich wieder von ihr gelöst hatte, »das habe ich jetzt gebraucht: Ein hübsches Mädchen, um mich aufzuheitern.«
»Hoffentlich habe ich dich nicht bei wichtigen Angelegenheiten unterbrochen«, sagte sie spitzbübisch.
»Keine Angelegenheit kann so wichtig sein wie du.« Er presste seine Lippen auf seine Lieblingsstelle hinter ihrem Ohr. »Also, Mylady, was kann ich für Sie tun? Wollen Sie sich beschweren oder haben Sie gar ein Verbrechen anzuzeigen?«
Sie lachte. »Nein, das ist es nicht!«
»Ah,
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