Schicksalsmord (German Edition)
jetzt.“
„Selbstverständlich“, erwiderte ich und nahm sie nun meinerseits in die Arme. Dem traurigen Anlass zum Trotz durchströmte mich ein warmes Glücksgefühl, weil meine Schwester mir wieder gut war.
Mir blieb nicht viel Zeit zum Nachdenken, Lydias Tatkraft riss mich gleich wieder mit sich fort. „Wir gehen jetzt zur Kanzlei, ich muss wissen was passiert ist!“, bestimmte sie. Lydia griff nach ihrem Mantel, jenem flauschigen, leuchtend orangeroten Gebilde, das sie auch bei unserem Treffen in Bödersbach getragen hatte. Plötzlich hielt sie inne und schlüpfte stattdessen mit großer Selbstverständlichkeit in meinen schlichten, marineblauen Dufflecoat. „Mein Mann ist schließlich tot.“, sagte sie entschuldigend und hielt mir den leuchtenden Fummel hin. „Nimm den. Wir haben doch fast die gleiche Größe.“ Aber nicht den gleichen Geschmack, dachte ich und legte mir nur mein großes Umschlagtuch über den Pullover. Schließlich herrschten wieder geradezu frühlingshafte Temperaturen. Die wenigen Querstraßen bis zur Kanzlei legten wir fast im Laufschritt zurück. Schon von weitem sahen wir den Polizeiwagen, das Absperrband und den Menschenauflauf vor dem Gebäude.
Die Kanzlei mit der darüberliegenden Wohnung befand sich in einer Jugendstilvilla und war von hohen Kastanien umgeben. Wir mischten uns unter die davor versammelten Menschen. Ein Mann erklärte den andächtig lauschenden Gaffern gerade, was geschehen war: „Erschossen!“, sagte er, „Er hat den Anwalt erschossen.“
„Verzeihung, wer hat den Anwalt erschossen?“ Es war tatsächlich Lydia, die das ganz ruhig und sachlich fragte.
„Der Ehemann“, erwiderte der Angesprochene, ein etwa 40 Jahre alter bärtiger Mann, der die Weste der Stadtreinigung trug. „Also der Anwalt hat die Frau vertreten, wegen der Scheidung und dem Geld und von wegen Sorgerecht für die Kinder und so, - ja und ihr Alter hat ihn dann abgeknallt.“ Der Mann wirkte, als würde ihn dieser tragische Ausgang eines Scheidungskrieges mit einer gewissen Befriedigung erfüllen.
Lydia wollte offenbar noch etwas fragen, doch in dem Moment flammte vor ihrem Gesicht ein Blitzlicht auf. Ein Fotoreporter, den wir nicht bemerkt hatten, hielt die Kamera direkt auf sie gerichtet. Empört drehte sich Lydia um, und ich hatte Mühe, ihr zurück zur Villa der Rittwegers zu folgen. Zum Glück heftete sich der Reporter nicht an unsere Fersen.
Für den Rest des Vormittags wagten wir die Wohnung nicht mehr zu verlassen und hingen unseren Gedanken nach. Ich rief zwischendurch Martina an. Sie versprach, Urlaub für mich zu beantragen und Mutter ganz schonend über Dietrichs Tod zu informieren. Zu Martina hatte ich volles Vertrauen, sie würde das besser hinkriegen, als ich es vermocht hätte.
Dietrichs Tod nahm mich ziemlich mit. Ich hatte meinen Schwager gemocht, er war ein humorvoller, warmherziger Mann gewesen. Wie hatte ihm nur jemand so etwas antun können?
Lydia ging viel gefasster damit um. Sie stellte Spekulationen an, wer der gewalttätige Mandant gewesen sein könnte, ohne zu einem Ergebnis zu kommen.
Über unseren Zwist in der Wohnungsangelegenheit fiel kein Wort. Das wäre jetzt taktlos gewesen. Aber eventuell würde Dietrichs Tod und die Tatsache, dass Lydia wohl erben dürfte, ihre finanzielle Situation entscheidend verbessern. Dann gäbe es neue Hoffnung für mich. Ich schämte mich unendlich für diese egoistischen Gedanken.
Am späten Nachmittag erschienen zwei Kriminalbeamte, ein älterer, seriös wirkender Herr mit Goldrandbrille, der eher wie ein Versicherungsvertreter aussah, und eine noch recht junge, attraktive Frau mit schulterlangem dunklen Haar. Sie stellten sich als Ermittler in der Mordsache Tanner vor. Ich erschrak vor diesem amtlichen Ausdruck, erst jetzt nahm das bisher Unwirkliche für mich Gestalt an.
Lydia bat sie in den eleganten Wohnraum und bot Kaffee an, den sie jedoch freundlich ablehnten. Sie befragten Lydia zunächst nach Dietrichs Gewohnheiten, wollten wissen, wie lange er freitags üblicherweise in der Kanzlei sei und ob er abschließe, wenn er keine Mandanten mehr erwarte.
Lydia ließ sich mit der Antwort Zeit und wählte ihre Worte sorgsam. Das sei gar nicht so einfach zu beantworten, meinte sie schließlich. Normalerweise ende die Bürozeit freitags um 14 Uhr, das Kanzleipersonal gehe dann auch aus dem Hause. Wenn Dietrich gewöhnlich als letzter die Kanzlei verlasse, schließe er ab. Doch komme es oft vor, dass er länger
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