Schicksalsmord (German Edition)
arbeite oder später in die Kanzleiräume zurückkehre, da seine Wohnung ja direkt darüber liege. Manchmal sei er sogar noch nach 22 Uhr in sein Büro gegangen, um beispielsweise etwas in einer bestimmten Akte nachzusehen. Von festen Gewohnheiten könne da also keine Rede sein. Auch sei es äußerst unzweckmäßig gewesen, direkt über der Kanzlei zu wohnen. Mandanten, die meinten ein unaufschiebbares Anliegen zu haben, hätten sich dann einfach an der Wohnungstür gemeldet und Dietrich habe nie jemanden abgewiesen. „Ich fand das jedenfalls äußerst lästig, es sollte eine strikte Trennung zwischen Beruf und Privatleben geben“, schloss Lydia das Thema ab. Der Beamte reagierte darauf mit einem kleinen resignierten Lächeln, das sich wohl auf seine eigenen Erfahrungen mit dieser Trennung bezog.
Ob Dietrich Feinde gehabt habe und wie das Arbeitsklima in der Kanzlei gewesen sei, wollte er nun als nächstes wissen.
Wieder wählte Lydia ihre Worte mit Bedacht. Ihr Ehemann sei ein sehr angesehener Anwalt und verträglicher Mensch gewesen. Sicher habe es auch Mandanten gegeben, die mit dem Ausgang ihres Prozesses nicht zufrieden waren und ihn dafür mitverantwortlich machten, doch habe er das immer gütlich regeln können. Von Feindschaften könne da nicht die Rede sein, obwohl man natürlich nie wisse, was in bestimmten Menschen vorgehe. „Aber“, unterbrach sich Lydia an dieser Stelle leicht irritiert „wieso fragen Sie das eigentlich? Sie haben den Täter doch, und soweit ich gehört habe, soll es sich um einen Mandanten handeln.“
Der Beamte runzelte die Stirn. „Wie auch immer Sie das erfahren haben wollen, es entspricht nicht den Tatsachen. Der Fall ist durchaus nicht aufgeklärt. Daher muss ich Sie auch bitten, meine Fragen möglichst ausführlich zu beantworten.“
Lydia brauchte einen Moment, um diese Auskunft zu verdauen. „Wo waren wir stehengeblieben?“, musste sie sich erst orientieren. „Ach ja, das Arbeitsklima in der Kanzlei. Zu meiner Zeit war es in Ordnung. Aber Sie müssen bedenken, dass ich seit vier Wochen nicht mehr dort arbeite. Falls es neuere Entwicklungen gab, kann ich nichts dazu sagen.“
An dieser Stelle musste ich heftig schlucken. Seit vier Wochen arbeitete Lydia nicht mehr in der Kanzlei? So lange war sie also schon von Dietrich getrennt. Bei mir hatte sie jedenfalls den Eindruck erweckt, als sei der Bruch zwischen ihnen erst vor wenigen Tagen erfolgt. Warum hatte Lydia es so lange verschwiegen? Dieser Beweis ihres mangelnden Vertrauens nagte heftig an mir und ich hatte Mühe, mich auf das zu konzentrieren, was sie nun über die einzelnen Mitarbeiter der Kanzlei ausführte. Es war ziemlich nichtssagend, Lydia achtete offenbar sehr darauf, niemanden bloßzustellen. Die Beamten mussten den Eindruck gewinnen, meine Schwester sei eine in ihrem Urteil äußerst zurückhaltende und jedem Klatsch und Tratsch abholde Person.
Ich wusste, dass sie auch ganz anders sein konnte und die Portraits der Mitarbeiter, die sie mir gegenüber in der Vergangenheit gezeichnet hatte, waren wesentlich facettenreicher und auch wesentlich boshafter gewesen. Da war zunächst einmal Sarah, die dienstälteste, ganztags beschäftigte Anwaltsgehilfin. Sie war wie Lydia Mitte 30 und ein ätherisch zartes Wesen mit blasser Haut, hellen Augen und leicht gewelltem, langen, rotblonden Haar. Mit ihren ruhigen Bewegungen wirkte sie wie eine Nixe, die im fahlen Mondlicht aus einem Weiher steigt. Lydia fand sie jedoch langweilig und zu langsam, weshalb sie Sarah abwechselnd als Schlaftablette oder als Trantüte bezeichnete. Lydia liebte es, andere mit Spitznamen zu belegen, natürlich ohne deren Wissen und nur im vertrauten Kreis. Katrin hieß bei Lydia nur die Kokotte. Sie war nach Lydias Heirat mit Dietrich eingestellt worden und teilte sich eine Stelle mit ihr. Katrin war ein niedliches, dunkelhaariges Persönchen mit einem hübschen, ein wenig puppenhaft wirkendem Gesicht. Angeblich wäre sie gern Model geworden, was bei ihren nur 1,58 m Körpergröße jedoch nicht im Bereich des Möglichen lag. Lydia machte sich gern darüber lustig, indem sie behauptete, Katrin sei gerade mal einen halben Kopf größer als ein Dackel. Und sie sei fürchterlich eifersüchtig auf meine sie an Attraktivität weit übertreffende Schwester.
Die Sekretärin Frau Goldschmidt war um die 50 und ein mütterlicher Typ. Wegen ihrer vorsichtigen, betulichen Art hatte Lydia sie „die Bedenkenträgerin“ getauft.
Den Referendar Peter
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