Schicksalsmord (German Edition)
leid, und ich gab mir selbst die Schuld an unserem Streit. Lydia war ja wirklich zu bedauern. Nun war schon ihre zweite Ehe gescheitert und sie stand mit leeren Händen da. Es war mir unverständlich, dass meine schöne Schwester so viel Pech mit ihren Ehemännern hatte. Ihre erste Ehe war Lydia sehr jung eingegangen, gleich nach dem Abitur hatte sie einen Klassenkameraden geheiratet und war mit ihm gemeinsam zum Studium nach Gießen gegangen. Die Ehe lief nicht besonders gut, Thomas und Lydia waren einfach zu verschieden: Er still und in sich gekehrt, meine Schwester temperamentvoll und lebenshungrig. Man hätte es anders erwartet, doch schließlich war er es, der sie verließ.
Ihre zweite Ehe mit Dietrich Tanner schien gut zu gehen. Obwohl deutlich älter als Lydia, war Dietrich äußerst dynamisch und unternehmungslustig. Und er vergötterte Lydia. Es wollte mir nicht so recht in den Kopf, dass er sie nun verlassen haben sollte. Ich hätte genauer nachfragen sollen, vermutlich war Lydia ja auch zu mir gekommen, um sich auszusprechen. Aber ich war kaum auf ihre Gefühle eingegangen und hatte nur meine Probleme gesehen. Dabei war es verdammt fair von ihr gewesen, zunächst allein mit mir zu reden. Mutter wäre doch mit Begeisterung auf ihren Vorschlag angesprungen, und ich hätte keine Chance gehabt.
In der Nacht tat ich kein Auge zu und grübelte über eine Lösung nach, die sowohl Lydia als auch mir gerecht werden würde. Gegen Morgen meinte ich eine Variante gefunden zu haben: Lydia könnte mir das Geld für meine Wohnung leihweise überlassen. Ich würde jeden Monat so viel zurückzahlen, wie es mein Krankenschwesterngehalt erlaubte, und Lydia hätte so eine regelmäßige Einnahme. Zumutbar wäre ihr diese Absprache aber sicher nur, wenn sich dafür ihr Anteil am Gesamterbe erhöhen würde.
Ich verfluchte die Tatsache, dass sich Lydia im Zorn von meinem Schwager Dietrich Tanner getrennt hatte. Ihm wäre die Ausarbeitung eines Vertrages zu Lydias und meiner Zufriedenheit ein Leichtes gewesen, und ihm vertraute ich voll und ganz. So aber würden sich die Verhandlungen zwischen Lydia und mir eventuell hinziehen, bis meine Traumwohnung anderweitig verkauft und für mich verloren wäre.
Als ich morgens meinen Frühdienst antrat, muss ich nach der durchgrübelten Nacht keinen erfreulichen Anblick geboten haben. Meine Kollegin Martina, die wie immer frisch und rosig wirkte, sah mich erschrocken an. Martina ist nicht nur meine Kollegin, sondern auch meine einzige und beste Freundin. Sie ist ein durch und durch positiver Mensch, ihr ganzes Wesen strahlt Wärme und Heiterkeit aus. Von ihrem runden, mit Sommersprossen übersäten Gesicht, das von krausem roten Haar umrahmt wird, geht ein Leuchten aus, das jeden sofort für sie einnimmt. Die Patienten lieben Martina. Und auch ich verspürte bei ihrem Anblick sofort Erleichterung und nutzte die erste sich bietende Gelegenheit, ihr mein Herz auszuschütten.
Lange Vorreden waren nicht nötig, Martina kennt meine Verhältnisse genau. Das einzige Problem zwischen uns beiden ist ihre Abneigung gegen Lydia. Dabei war Martina ursprünglich mit Lydia befreundet gewesen. Ich wusste nicht genau, was sie so gegen Lydia erbittert hatte und wollte es eigentlich auch nicht wissen. Beide waren mir sehr wichtig, ich wollte nicht Partei ergreifen müssen.
Leider wurde Martinas Aversion auch jetzt wieder spürbar. Sie pfiff leise durch die Zähne: „Sieh mal an, jetzt will das Schwesterherz ihr angebliches nur-pro-forma-Erbe doch antreten. Und das auch noch sofort...“
Ich wiegelte ab. „So ist es doch gar nicht. Lydia beansprucht nach wie vor nur die Hälfte vom Erbe meiner Eltern.“ Martina sah mich merkwürdig an. „Na gut“, lenkte ich ein, „vielleicht ein wenig darüber hinaus, nähme sie jedoch Vaters Testament wörtlich, dann könnte sie noch mehr verlangen.“
Ich hätte das unselige Testament nicht erwähnen sollen. Martina war nämlich ernsthaft der Meinung, Lydia hätte es meinem Vater diktiert, einen seiner häufigen, gegen mich gerichteten Wutanfälle geschickt ausnutzend. Sie gab ihrer Verwunderung darüber Ausdruck, wie mein zeitweise schon ziemlich verwirrter Vater ein formal fehlerfreies Testament aufsetzen konnte. Schließlich würden sehr vielen Menschen bei der Abfassung ihres letzten Willens Fehler unterlaufen, die im Nachhinein für viel Ärger sorgten.
Ich hatte Lydia immer gegen diese Verdächtigung verteidigt. Und ich wollte auch jetzt nicht darüber
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