Schicksalspfad Roman
und sich immer gefreut, wenn sie sich,
wie aus einem religiösen Impuls heraus, in bescheidener, nichtmedizinischer Weise um sie kümmern konnte. Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel, Kusinen - wenn jemand krank wurde oder sich einen Knochen brach, besuchte Joanne sie und brachte ihnen Süßigkeiten, ein Magazin oder eine selbst gemachte Karte. Abends im Bett schloss sie sie in ihre Gebete ein.
Von dem Morphium innerlich gewärmt, schloss Mrs. Shavelson die Augen, lächelte flüchtig und erschlaffte. Zumindest war sie jetzt schmerzfrei, dachte Joanne. Wenn sie nach Hause käme, würde man sie an einen Tropf mit höherer Dosierung anschließen, und der Tod würde sich langsam in diesen Nebel einschleichen.
Joanne steckte das kleine, halbleere Medizinfläschchen in die Tasche ihrer Uniform und ging zum Schwesternzimmer. Mit etwas Glück würde Cherry dort sein und die Patientenkarten ausfüllen.
»Ich werfe fünf Milligramm Morpheus weg«, rief Joanne und benutzte den gleichen Begriff wie Fred - es war der Name des griechischen Gottes der Träume.
»Okay«, gab Cherry nachlässig und ohne aufzublicken von sich. Cherry war eine Krankenschwester, die immer nur eine einzige Aufgabe mit voller Konzentration erledigen konnte, keine wahrhaft umsichtige Kraft wie Grace. Allerdings war sie eine viel bessere Beifahrerin auf dem Motorrad - sie hatte gesagt, welchen Spaß es ihr machte und wie frei sie sich fühlte. Das war echte Begeisterung. Nicht so wie Grace.Völlig verspannt hatte sie Joanne ständig gebeten, langsamer zu fahren und auf die Straße zu blicken, und hatte die Finger ängstlich in ihren Rücken gegraben. Was Joanne aber am meisten geärgert
hatte, war die Vorhaltung wegen Donny. Grace, die ihren Mann nur ein paar Monate lang gekannt hatte, bevor er starb. Was wusste sie denn schon, was Ehe bedeutete?
»Wie geht’s Mrs. Shavelson?«, fragte Cherry.
Joanne blickte auf. »Oh, sie ist jetzt im Elfenland.«
»Sie will ihren Enkel sehen«, sagte Cherry. »Er studiert Jura.« Sie legte den kleinen Finger ans Kinn. »Meinst du, ich sollte es tun?«
Joannes Finger tastete nach dem Morphiumfläschchen in ihrer Tasche. »Hat Grace diesen Typen gesehen?«, fragte sie. Sie brachte das Fläschchen besser in ihren Spind, ehe jemand die kleine Ausbuchtung bemerkte. »Sie könnte dir sagen, ob er ein heißer Typ ist.«
»Er hat sie noch nicht besucht«, sagte Cherry. »Er wohnt in Boston.«
»Boston? Und da hat er noch nicht seine sterbende Oma besucht?« Joanne machte ein Geräusch wie ein Summer bei einem Quiz, der einen Fehler anzeigt. »Nächster Teilnehmer bitte.«
Das schien ein guter Abgang, und Joanne ging bewusst lässig den Gang hinab zu den Spinden. Sie hoffte, dort ungestört zu sein, aber als sie eintrat, sah sie Dawn, die Schlampe, die gerade jemanden auf ihrem Handy anrief. Man durfte Handys auf dieser Station eigentlich nicht benutzen, weil sie die Monitore und die IV-Pumpen störten, daher kamen Schwestern manchmal dazu hierher, aber es war meistens Dawn, eine Wasserstoffblondine von Mitte vierzig, die einen Tanga mit hochgezogenen Strapsen trug wie ein billiger Teenager. Sie war mit Abstand die faulste Schwester der Station, und es ging das Gerücht, dass man sie von der Tagschicht verlegt hatte,
als ein Patient fast durch eine Überdosis umgekommen war. Joanne konnte Dawn instinktiv nicht ausstehen, nicht so sehr wegen ihrer Faulheit, sondern wegen ihrer Schlampigkeit. Dawn schlief mit jedermann wie eine heiße Hündin, während Joannes Promiskuität eher eine Frage der Haltung war statt eine Lebensart. Joanne hatte nur mit einem einzigen Mann in ihrem Leben Sex gehabt - nach ihrer eigenen engen Definition. Tony hielt nichts von außerehelichem Sex.
»Ich rufe dich zurück«, sagte Dawn mit einem verächtlichen Blick zu Joanne. Dawn war zu allen anderen gemein. Aber Joanne hatte sie besonders aufs Korn genommen, denn sie sah in ihr die heißeste Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Latino-Techniker. Sie legte ihr Telefon in den Schrank und verschwand wortlos.
Joanne war das egal. Sie wollte bloß ihre Beute sicher im Spind verstecken. Mit zitternden Händen fummelte sie an dem Kombinationsschloss herum und murmelte beim Einstellen die Zahlen. Dann öffnete sie die Tür und schob das Morphium rasch unter einen sauberen Anzug.
Auf dem Rückweg sah sie bei Ms. Shavelson vorbei und beschloss, auch Mr. Blanchard zu besuchen, einen riesigen australischen Schwulen in den Fünfzigern, der ausgestopfte
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