Schicksalspfad Roman
kuschte.
Als Fred, Lavender und Wade Conner gegangen waren, holte Grace tief Luft und begann mit dem allabendlichen Ritual: Sie drehte den Patienten um, nahm ihm Blut ab und wusch seinen perfekten Körper mit einem Schwamm. Seine Haut war glatt und gebräunt und auffallend haarlos - offensichtlich hatte er eine Laserbehandlung hinter sich, selbst zwischen den Schenkeln. Das Abbild eines Mannes, dachte Grace. Wie Wade gesagt hatte, war es erstaulich, dass er keinen einzigen Knochen gebrochen hatte.
Als Grace ihn fertig gewaschen hatte, setzte sie sich in den Sessel neben dem Bett und bemerkte auf dem Boden davor das Filmskript, das Lavender am Vorabend gelesen hatte. Grace hob es auf, blätterte wahllos darin herum und begann zu lesen. In der Geschichte schien es sich um einen Mann namens Jack und eine Frau namens Miranda zu handeln, die mit dem Zug durch China fuhren und von Bösewichten verfolgt wurden. Nach ein paar Seiten merkte sie, dass sie Hunger hatte.
19
A ls Joanne von Nightingales nach Hause kam, rief sie als Erstes Donny an, um ihm zu sagen, dass sie ihr Motorrad abholen würde, und zwar sehr bald. »Ich komme rüber, um Suzi abzuholen«, sagte sie, als ginge es um die Vormundschaft für ein Kind. Sie rechnete damit, dass Donny das Motorrad so lange wie möglich behalten und Ausreden erfinden würde, warum es heute Abend nicht ginge. Stattdessen sagte er, sie solle um neun in seine Wohnung kommen.
»Warum in die Wohnung?«, fragte Joanne. »Sag mir doch einfach, wo sie steht, und ich hole sie ab.«
»Komm auf einen Moment hoch«, meinte Donny. »Dann begleite ich dich dorthin wie ein echter Gentleman.«
Joanne fragte sich, was Donny im Schilde führte. Sie hatte seit ihrem Auszug nach Turtle Island die Wohnung nicht mehr betreten, und darauf war sie stolz. Wenn sie ihre Ehe nüchtern betrachten wollte, durfte sie keine Gefühle riskieren, die beim Betreten des alten Zuhauses vielleicht hochkamen. Sie hatte eigentlich schon beschlossen, umzuziehen, falls Donny und sie wirklich wieder zusammenkämen. Die alte Wohnung war für sie ein für alle Mal gestorben.
Trotzdem war sie neugierig. Sie hatte ja auch trotz allem gute Erinnerungen daran. Weihnachten mit Donny, die Geschenke unter dem kleinen duftenden Baum, an den sie Lichterketten und Zuckerstangen gehängt
hatten, an den Tag, als Joanne darauf bestanden hatte, die Wohnung zu renovieren, weil sie an eine gute Zukunft glaubte. Und an das Heimkommen zu Donny nach einem langen Arbeitstag, wenn er sie mit einer Umarmung begrüßte oder ihr in den Hintern kniff.
Daher stimmte Joanne - wenngleich zögernd - zu, Donny am »Tatort« zu treffen, wie sie die Wohnung sarkastisch bezeichnete. Donny war zu blöd, um diese Anspielung zu verstehen. Er dachte, sie meinte das Verbrechen ihrer Trennung und nicht, dass er eine andere Frau in ihrem Bett gevögelt hatte. Aber sie gab sich nicht die Mühe, ihn darüber aufzuklären.
Sie duschte und zog ein dünnes Sommerkleid an, das sie schon im Frühling gekauft, aber bisher noch nicht getragen hatte. Sie trug kaum jemals Kleider. Es war knapp geschnitten, wadenlang, betonte ihre Figur und hatte rote, blaue, gelbe und olivgrüne Tupfen.
Als sie mit der U-Bahn bei der Lower East Side ankam, war es schon nach neun, und eigentlich hätte sie gerne etwas gegessen. Sie überlegte, im Vorbeigehen eine Pizza zu kaufen, aber sie wollte Donny nicht warten lassen. Daher ging sie zu dem vertrauten Wohnblock, holte den Schlüssel heraus, öffnete die Tür und stieg die vier Stockwerke hoch. Es war kaum zu glauben, dass es fast ein Jahr her war, dass sie diese schmutzige Treppe hinaufgegangen war. Ihr war etwas schwindlig, als sie endlich vor der Wohnungstür ankam. Seltsame Gefühle schnürten ihr die Kehle zu. Tränen quollen in ihren Augen hoch. Sollte sie einfach aufschließen oder klopfen? Aber warum sollte sie an der eigenen Haustür klopfen? Nun, es war jetzt Donnys Tür, es war seine Wohnung.
Sein Name stand im Mietvertrag. Sie war damals bloß zu ihm gezogen und hatte daraus ein Heim für sie beide gemacht.
Als sie die Tür öffnete, war sie in keiner Weise auf das vorbereitet, was sie erwartete.
Rechts befand sich die Küche, wo Donny, von ihr abgewandt, mit nacktem Oberkörper vor dem Herd stand und mit einem Holzlöffel abwechselnd in vier Kochtöpfen rührte. Joanne schnupperte und fühlte sich zurückversetzt in die Küche ihrer Großmutter in Sheepshead Bay, wo ihr oft der würzige Duft von Zwiebeln,
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