Schicksalspfade
er, sich in Sicherheit bringen zu können.
Eine Sekunde später war die Lawine heran. Eine gewaltige Schneeflut holte ihn von den Beinen und umgab ihn auf allen Seiten. Die Stöcke wurden ihm aus der Hand gerissen, als ihn die Schneemassen hin und her warfen; er kam sich vor wie ein welkes Blatt im Sturm. Der Lärm ließ plötzlich nach und Tom hörte nur ein dumpfes Rauschen.
Aus einem Reflex heraus schnappte er nach Luft – ein Fehler, den er sofort bereute, denn sein Mund füllte sich mit Schnee.
Von diesem Phänomen hatte er gelesen und er erinnerte sich daran, dass es besser gewesen wäre, den Mund geschlossen zu halten. Seine Gedanken rasten, als er versuchte, sich die anderen Überlebenstechniken bei einem Lawinenunglück ins Gedächtnis zu rufen.
Schwimm, dachte er und begann damit, die Arme und Beine zu bewegen, während ihn Kilotonnen von Schnee über den Berghang nach unten trugen. Er hatte das Gefühl von sehr hoher Geschwindigkeit und begriff plötzlich, dass er jederzeit gegen einen Felsen oder Baum geschleudert werden konnte.
Einen solche Aufprall hätte er sicher nicht überlebt. Der Schnee in seinem Mund verwandelte sich schnell in einen harten Ball, den er nicht ausspucken konnte, und er glaubte zu ersticken.
Auch weiterhin versuchte er, die Arme und Beine so gut wie möglich zu bewegen, wie in einer Flüssigkeit zu schwimmen.
Es gelang ihm, sich im dahinstürzenden Schnee aufzurichten und in eine sitzende Position bringen, mit den Beinen nach vorn.
Er wusste nicht, wie lange er über den Hang rasen würde, bis die Lawine ebenes Terrain erreicht hätte – oder eine Klippe, hinter der Tom ein weiterer Sturz erwartete, in die Tiefe und in den sicheren Tod.
Er musste bereit sein, um sich nach oben zu stoßen, sobald der Schnee zur Ruhe kam. Wenn er zu spät reagierte, sackte das Weiß um ihn herum zusammen und wurde so fest, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Ihm blieben nur einige wenige Sekunden, um die Oberfläche der Lawine mit dem Kopf zu durchstoßen, um zu atmen.
Die rasende Fahrt ging weiter, schien endlose Minuten zu dauern und Tom versuchte noch immer Richtung Oberfläche zu schwimmen.
Die Masse begann kaum merklich langsamer zu werden und Tom verdoppelte seine Anstrengungen, setzte alles daran, nach oben zu gelangen. In wenigen Sekunden, so wusste er, würde die Lawine zum Stillstand kommen und sich das enorme
Gewicht des Schnees auf ihn herabsenken. Er bemühte sich wie ein Taucher, der an die Wasseroberfläche zurückkehren wollte, und einen Augenblick lang glaubte er tatsächlich, es zu schaffen. Dann prallte er plötzlich gegen etwas Hartes und Dunkelheit umfing ihn.
Tom, Tom, des Pfeifers Sohn,
küsste die Mädchen und sie flohen schon…
Charlie sang den alten Vers und lachte voller Schadenfreude, als er vor Tom lief, der so schnell rannte, wie er konnte, um ihn einzuholen und aufs Gras zu werfen, damit er aufhörte.
Sie waren fünf Jahre alt und sahen sich einer völlig neuen Welt gegenüber. Die Hügel von Portola Valley erstreckten sich kilometerweit, vom Winterregen grün, ein riesiger Spielplatz für die beiden guten Freunde, die sich zum ersten Mal als sechs Monate alte krabbelnde Kleinkinder begegnet waren. Ihre Mütter hatten ihnen später davon erzählt, wie die beiden Babys auf dem Boden saßen und sich verblüfft ansahen. Beide fragten sich, was es mit jenem Geschöpf auf sich haben mochte, das im Gegensatz zu allen anderen kein Riese war.
Baby Tom streckte versuchsweise die Hand aus und berührte Charlies pummelige Wange, als wollte er auf diese Weise die Realität seiner Vision überprüfen. Dann juchzte er und krabbelte fort, gefolgt von einem lächelnden und glucksenden Charlie.
Seit damals waren sie Freunde. Sie hatten miteinander gespielt, gerauft und genörgelt. Seit mehr als zwanzig Jahren verteidigten sie sich gegenseitig und begegneten einander mit uneingeschränktem Vertrauen. Charlie und Tom, Tom, des Pfeifers Sohn…
Schmerzen pochten im Kopf und brannten im Hals. Warum hänselte ihn Charlie?
Tom hob die Lider und sah in Charlies Augen. Odile und Bruno blickten ebenfalls auf ihn hinab, wirkten blass und besorgt. Er versuchte sich zu orientieren, aber es fiel ihm schwer, die Vision von der Kindheit zu verdrängen.
Odile untersuchte ihn mit einem medizinischen Gerät und allmählich verflüchtigte sich seine Benommenheit. Er begriff plötzlich, dass er auf dem Boden des Shuttles lag, und dann fiel ihm alles ein: der Zorn auf die
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