Schicksalspfade
Schärfe in ihrer Stimme.
»Ich will mich nicht beruhigen. Ich möchte weiterhin über Dinge nachdenken und Fragen stellen, die offenbar niemand beantworten kann. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen, weil Sie ein Ältester sind. Sie sollten uns Rat geben, aber auch Sie wollen mir nicht helfen. Ich meine es sehr ernst, Toscat – ich möchte wissen, ob schriftliche Aufzeichnungen existieren, wo sie sich befinden und warum niemand von ihnen weiß. Und was noch wichtiger ist: Ich möchte sie lesen.«
Toscat blinzelte verdutzt und Kes begriff, dass er es ganz und gar nicht gewohnt war, auf diese Weise angesprochen zu werden. Vielleicht geschah es zum ersten Mal, dass ihn jemand herausforderte, noch dazu ein Kind, das gerade erst seinen Wachstumszyklus hinter sich hatte. Kes hielt den Blick auf ihn gerichtet.
»Sei vorsichtig, junge Dame«, erwiderte Toscat, und seine mentale Stimme hatte etwas Stählernes. »Ich lasse nicht zu, dass man mir droht. Benimm dich oder ich schicke dich zu deinen Eltern zurück und teile ihnen mit, dass du sehr unhöflich zu mir warst.«
Kes nahm ihre ganze innere Kraft zusammen, um sich zu beruhigen. Sie wollte Antworten und dieser Mann konnte sie ihr vielleicht geben. Es hatte keinen Sinn, ihn zu verstimmen.
In einer Geste des Gehorsams senkte sie die Lider und sprach wie ein braves Kind in Gedanken zu ihm. »Es tut mir Leid, Toscat. Ich wollte nicht respektlos sein. Ich habe nur so viele Fragen und weiß, dass jemand, der so klug und erfahren ist wie Sie, die Antworten kennt. Sie sind ein Ältester, weil Sie über große Weisheit verfügen, und ich wünschte mir nichts anderes, als an Ihrem Wissen teilzuhaben.«
Durch die Wimpern sah sie zu ihm auf und beobachtete, wie die Strenge aus seinen Zügen wich. Er trat auf sie zu und streckte wie versöhnlich die Arme aus. »So ist es schon besser.
Jetzt klingst du wie ein richtiges Ocampa-Kind.«
Kes konnte es kaum fassen, dass er sich so leicht
manipulieren ließ. Mit welchem Recht verlangte dieser Mann Respekt? Er war ein engstirniger Narr. Sorgfältig schirmte sie ihr Selbst ab, damit er ihre Gedanken nicht empfing.
Toscat blieb dicht vor Kes stehen und strich ihr übers Haar.
Sie brauchte ihre ganze Selbstdisziplin, um nicht
zusammenzuzucken.
»So wundervolles Haar… Und deine Ohren, so fein. Du hast sie bestimmt von deiner Mutter. Bei Benaren sind die Spitzen dicker.«
Verwirrung und Unbehagen erfassten Kes. Sie wusste nicht, warum Toscat plötzlich über ihre physischen Merkmale
sprach. Eines stand fest: Solche Dinge hatten nichts mit ihrem Anliegen zu tun. Sie wich einen Schritt zurück.
»Bestimmt sind Ihnen viele Dinge bekannt, Toscat. Ich kann mir Ihr großes Wissen nicht einmal vorstellen. Bitte sagen Sie mir… Gibt es alte Schriften? Sind Sie deshalb so weise geworden? «
Toscat strahlte übers ganze Gesicht. Die Schmeicheleien veranlassten ihn, tatsächlich die Information preiszugeben, die Kes von ihm wollte. »Ja, es gibt alte Schriften, aber nur den Ältesten ist es erlaubt, sie einzusehen. Um ganz ehrlich zu sein: Ich bezweifle, ob du sie interessant oder nützlich finden würdest.«
Kes konnte es kaum fassen. Nicht interessant? Die
Aufzeichnungen ihrer Vorfahren und die Geschichte ihrer Umsiedlung ins Innere des Planeten sollten nicht interessant sein? Wie konnte Toscat so etwas behaupten? Ihr Herz klopfte heftig und sie versuchte sich zu beruhigen, um weitere Fragen an den Ältesten zu richten.
»Berichten die Schriften vom Beschützer? Erklären sie, warum er beschloss, uns zu helfen? Beschreiben sie die Oberfläche und das Aussehen der Sonne?«
Aber Toscat schien nicht bereit zu sein, noch mehr Auskünfte zu geben. Erneut strich er Kes übers seidene Haar.
»All diese Dinge haben überhaupt keine echte Bedeutung für dich. Schon bald wirst du einen Lebenspartner finden und dann beginnt das Elogium für dich. Du wirst ein Kind bekommen und glaub mir: Dann hast du keine Zeit mehr, solche sinnlosen Fragen zu stellen.«
Er trat zurück, gab Kes damit zu verstehen, dass die Audienz beendet war. »Ich habe mich sehr über das Gespräch mit dir gefreut. Meine Tür steht immer für dich offen, wie auch für alle anderen Ocampa. Bitte richte Martis und Benaren schöne Grüße von mir aus.«
Kes zögerte und begriff, dass die nächsten Sekunden
vielleicht die wichtigsten in ihrem bisherigen Leben sein würden. Sie konnte sich jetzt von Toscat verabschieden und sich damit begnügen, vor den Unterhaltungsschirmen
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