Schicksalspfade
möchte ihm einige Fragen über unsere Vergangenheit stellen«, erwiderte sie offen und sprach laut. Dünne Falten des Ärgers bildeten sich in ihrer Stirn, als sie sah, wie Marlath spöttisch lächelte.
»Ich verstehe. Und was möchte ein kleines Mädchen, das gerade erst seinen Wachstumszyklus beendet hat, über unsere Vergangenheit wissen?«
»Eine ganze Menge. Alles. Niemand scheint Einzelheiten zu kennen und ich dachte mir: Wenn jemand darüber informiert ist, so ein Ältester. Deshalb bin ich hier.« Marlaths Lächeln wuchs in die Breite und Kes spürte, wie ihr Ärger zunahm. Sie musste sich beherrschen und durfte nicht zulassen, dass dieser eingebildete Sekretär ihre emotionale Stabilität beeinträchtigte.
Es ging darum, Toscat gefasst gegenüberzutreten. Daher zwang sie sich, das Lächeln zu erwidern, wobei sich der Mund wie ein erstarrter Riss in ihrem Gesicht anfühlte.
Zum Glück öffnete sich genau in diesem Augenblick die Tür von Toscats Büro und er schlenderte ins Vorzimmer, den Arm um die Schultern eines anderen Ältesten gelegt. Beide glucksten über irgendeine geistreiche Bemerkung. Die Männer verabschiedeten sich telepathisch und dann wandte sich Toscat Kes zu. Sein Gesicht war schwammig und die kleinen Augen wirkten leer.
»Nun, Kes, da bist du ja – du siehst mit jedem
verstreichenden Moment erwachsener aus. Offenbar geht dein Wachstumszyklus bald zu Ende.«
»Er ist bereits abgeschlossen.« Sie bestand auch diesmal darauf, laut zu sprechen, obwohl alle anderen die telepathische Kommunikation vorzogen.
»Komm herein, komm herein. Ich habe mich schon auf das Gespräch mit dir gefreut.« Er deutete zur Tür seines Büros und Kes betrat das große, schmucklose Zimmer, dessen Fenster einen Blick auf den Hof des Versammlungsgebäudes
gewährten. Viele Ocampa standen dort, sahen zu den
Unterhaltungsschirmen und warteten in den Schlangen vor den Ausgabeschaltern. Kes schauderte kurz.
»Ist dir kalt? Ich kann die Temperatur im Raum erhöhen, wenn du möchtest.«
»Nein, danke. Es ist alles in Ordnung.«
Toscat lächelte und deutete auf ein großes schwarzes Sofa.
Kes nahm darauf Platz, sank ins weiche Polster und kam sich ziemlich klein vor. Toscat setzte sich in einen großen Sessel mit hoher Rückenlehne und breiten, verzierten Armlehnen.
Kes hatte das Gefühl, die ganze Zeit über zu schrumpfen.
»Nun«, sagte Toscat und strahlte, »welchem Anlass verdanke ich den Besuch eines so hübschen Mädchens?«
Kes’ Wangen brannten. Toscat behandelte sie wie ein Kind, wie ein hirnloses kleines Mädchen, von dem man nur
erwartete, dass es brav und hübsch war. Er teilte sich ihr telepathisch mit, obgleich sie sich ihrer Stimme bediente. Kes empfand dies alles als sehr ärgerlich. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, sah dann direkt in Toscats Augen. »Ich möchte wissen, ob unsere Vorfahren schriftliche
Aufzeichnungen hinterlassen haben.«
Der Gesichtsausdruck des Ältesten war die Demütigungen wert, die Kes hatte ertragen müssen. Es handelte sich um eine Mischung von Verwirrung, Verblüffung und Argwohn. Kes fühlte einen Anflug von Triumph.
»Schriftliche Aufzeichnungen…?«, wiederholte Toscat langsam.
»Ja. Ich kann nicht glauben, dass es überhaupt keine
Aufzeichnungen gibt. Wir hatten eine außergewöhnliche Vergangenheit und bestimmt erinnern irgendwelche Schriften daran.«
Kes hielt dem Blick des Ältesten stand, wollte auf keinen Fall schwach erscheinen. Schließlich unterbrach er den
Blickkontakt, stand auf und trat zu den Fenstern, von denen aus man den Hof sehen konnte. »Warum erkundigst du dich danach?«, fragte er.
»Ich bin neugierig. Ich glaube, wir sollten unseren Ursprung so gut wie möglich kennen. Wie können wir wissen, was wir sein sollen, wenn uns verborgen bleibt, woher wir kommen?«
Toscat drehte sich langsam um und sah Kes so an, als
inspizierte er ein unbekanntes Insekt, das vagen Abscheu in ihm weckte. Er seufzte und sein Seufzen wehte wie Wind durch Kes’ Selbst. »Kes, Kes, Kes… Du bist viel zu jung, um dich mit solchen Gedanken zu belasten.« Er lächelte onkelhaft.
»Wenn du versuchst, so tiefsinnig zu denken, entstehen Sorgenfalten in deiner hübschen Stirn. Warum holst du dir nicht deine Ration und setzt dich vor die
Unterhaltungsschirme? Das beruhigt dich bestimmt.«
Wieder erwachte Ärger in ihr und diesmal konnte sie ihn nicht so einfach unterdrücken. Sie stand auf und bei den nächsten Worten erklang eine gewisse
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