Schicksalspfade
Haar.
Einen Monat später stand Kes auf dem Hof des
Versammlungsgebäudes. Ihr Haar wirkte ein wenig
ordentlicher, nachdem ihre Mutter die besonders struppigen Stellen geglättet hatte – es sah nicht mehr so aus, als hätte sich jemand mit einem stumpfen Messer darüber hergemacht.
Sie trug neue Kleidung, die Daggins Schwester für sie angefertigt hatte: weiche Leggings, darüber eine Hemdbluse.
Diese Sachen fand sie bequemer als alles, was sie jemals getragen hatte. Sie zeichneten sich durch eine Bequemlichkeit aus, die Kes geradezu als befreiend empfand. Doch hier, vor dem Versammlungsgebäude, bot sie damit einen sonderbaren Anblick.
Ihr Vorhaben erfüllte sie mit einer gewissen Nervosität, aber sie hatte mit Daggin und den anderen Ocampa der Farmgruppe darüber gesprochen. Sie alle waren der Meinung, dass es sich um einen notwendigen Schritt handelte, und niemand eignete sich besser dafür als Kes.
»Bürger der Ocampa«, begann Kes mit lauter,
zuversichtlicher Stimme. »Bitte hört mich an. Ich möchte euch von etwas Außergewöhnlichem in unserer Gesellschaft
berichten. Es gibt Aufzeichnungen, schriftliche
Aufzeichnungen, die von unserer Vergangenheit erzählen. Wir alle könnten von den Umständen erfahren, die dazu führten, dass wir heute hier leben, im Innern des Planeten. Wir könnten mehr über den Beschützer herausfinden, der uns hierher brachte, und vielleicht enthalten die Schriften auch Hinweise auf seine Beweggründe. Über all diese Dinge könnten wir Bescheid wissen, aber die Ältesten wollen uns keinen Zugang zu den Aufzeichnungen gewähren. Sie bestehen darauf, die Schriften ganz allein für sich zu behalten und zu verhindern, dass die Öffentlichkeit mit der alten Wahrheit vertraut wird. Ist das richtig? Haben sie ein Recht dazu? Sollte es uns nicht erlaubt sein, mehr über unsere Geschichte zu erfahren?«
Kes stellte fest, dass sich eine kleine Zuhörergruppe gebildet hatte, die aber hauptsächlich aus Daggin und seinen Freunden bestand. Die Aufmerksamkeit der meisten anderen Ocampa galt allein den Unterhaltungsschirmen; sie verweilten in ihrer Trägheit und schenkten Kes höchstens beiläufige Beachtung.
»Wissen sollte nicht vor den Bürgern versteckt werden«, fuhr Kes fort. »Jeder sollte Zugang dazu haben. Wissen an sich ist nicht gefährlich, aber der Mangel daran kann verheerend wirken. Wäre es nicht besser für unser Volk, wenn es mehr wüsste anstatt weniger? Die Schriften unserer Vorfahren enthalten ein Geschenk, das kostbarer ist als Energie und Wasser – sie enthalten Wahrheit. Die Wahrheit ist ein Wert für sich. Alle Personen sollten nach der Wahrheit suchen und das gilt auch für jene, die uns regieren. Aber uns wird die Wahrheit vorenthalten, weil eine kleine Gruppe entschieden hat, dass Wahrheit und Wissen besser geheim gehalten werden. Könnt ihr in einer solchen Denkweise irgendeine Weisheit
erkennen?«
Kes blickte an der gläsernen Fassade des Gebäudes empor, in dem sich die Büros der Ältesten befanden. An einem Fenster glaubte sie Toscat zu erkennen, der zum Hof sah. Dieser Anblick bestärkte sie in ihrer Entschlossenheit und sie wandte sich wieder der kleinen Gruppe zu, die inzwischen ein wenig gewachsen war. Einige neugierig gewordene Bürger hatten sich ihr hinzugesellt.
»Sie hat Recht!«, rief Daggin. »Wir sollten in der Lage sein, uns mit unserer Vergangenheit zu befassen. Warum gestattet man uns keinen Zugang zu den Dokumenten? Gibt es einen bestimmten Grund dafür? Wir sollten die Ältesten für ihre Entscheidungen zur Rechenschaft ziehen!«
Laute Beifallsrufe erklangen von den Zuhörern, aber die übrigen Ocampa wirkten nur verwirrt. Sie wussten einfach nicht, wie sie auf ein so ungewöhnliches Ereignis reagieren sollten. Die beruhigende Präsenz der Unterhaltungsschirme war weitaus vertrauter und einige Männer und Frauen kehrten zu ihnen zurück.
»Wer begleitet mich zu den Ältesten?«, rief Kes. »Wer unterstützt unsere Suche nach der Wahrheit über unsere Vergangenheit?«
Daggin und die anderen traten vor. »Wir!«, antworteten sie wie aus einem Mund. Doch die meisten übrigen Bürger
wandten sich ab und schienen überhaupt nicht zu begreifen, worum es Kes ging. Sie sah ihnen nach und zum ersten Mal regte sich Zweifel in ihr. Diese Leute waren viel zu passiv geworden, hatten jede Eigeninitiative verloren; sie würden die Ältesten nie herausfordern.
Dann bemerkte Kes eine vertraute Gestalt neben einer der Säulen. Sie erkannte
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