Schicksalspfade
daraufhin kam es zu einer raschen Alterung, die das Ende des Lebens ankündigte. Allmählich wurde er
schwächer und schwächer, bis er das Bett schließlich nicht mehr verlassen konnte. Kes und ihre Mutter blieben an seiner Seite, wie es Brauch bei den Ocampa war. Gemeinsam
erinnerten sie sich an die glücklichen Momente des
Familienlebens. Dieser Vorgang sollte dem Sterbenden den Übergang zur nächsten Existenzphase erleichtern und half den Angehörigen dabei, sich mit dem Verlust abzufinden.
Aber bei Kes schien es nicht zu funktionieren – sie steckte voller Trauer. Zwar bemühte sie sich, Benaren und Martis nichts davon zu zeigen, doch sie waren zu klug und kannten ihre Tochter zu gut, um sich von ihr täuschen zu lassen. Die Zeremonie des Abschieds diente immer mehr dazu, Kes zu helfen, mit ihrem Kummer fertig zu werden, bis sie ebenso wie ihr Vater imstande war, seinen Tod als unvermeidlich zu akzeptieren. Seine letzten Worte kündeten von tiefer Liebe für Tochter und Frau und dann starb er friedlich.
Nach dem letzten Atemzug ihres Vaters spürte Kes eine enorme Stille und Leere in ihrem Innern. Ihr Mutter schien das zu erkennen, denn sie wandte sich ihr zu, ergriff sie an den Schultern und sagte: »Du musst die Sonne sehen.«
Die schwarze Leere verschwand und Kes fühlte sich wie beflügelt. Die Großzügigkeit ihrer Mutter war erstaunlich. Sie erlaubte Kes etwas, das sie vielleicht für immer von ihr trennte.
Aber sie wusste auch, dass Kes aufbrechen musste.
Und so stieg Kes nun die Treppe hoch. Begeisterung und Schrecken lösten einander ab. Es war durchaus möglich, dass es auf der Oberfläche noch Kazon gab; vielleicht näherte sie sich einer großen Gefahr.
Andererseits: Vielleicht hatten die Kazon den Planeten schon vor langer Zeit verlassen. Immerhin war das ganze Wasser verdampft und das Terrain alles andere als einladend, wenn man den Beschreibungen der alten Aufzeichnungen glauben durfte. Warum sollte jemand in einer so lebensfeindlichen Umgebung bleiben wollen?
Es waren vor allem die schlichten Worte ihrer Mutter, die Kes veranlassten, den langen Aufstieg fortzusetzen: Sie musste die Sonne sehen. Alles in ihr verlangte danach, dem Licht der Sonne zu begegnen, ihre Wärme auf der Haut zu spüren. Sie wusste nicht, warum das so wichtig war. Eine Vision sorgte dafür, dass sie auch weiterhin eine Stufe nach der anderen hinter sich brachte, selbst dann, als ihre Beine nach tausenden von Stufen schmerzten und zitterten.
Gelegentlich hielt sie inne, um etwas zu essen und zu trinken
– sie hatte daran gedacht, Verpflegung mitzunehmen.
Anschließend stand sie wieder auf und machte sich erneut daran, die Treppe hochzusteigen. Manchmal hielt sie sich am Geländer fest, wenn sie über lockere Metallstufen hinwegtreten musste. An keiner Stelle wirkte die Treppe wirklich stabil. Kes fürchtete, dass sie von einem Augenblick zum anderen unter ihr nachgeben konnte – dann würde sie hunderte von Metern tief in den Tod stürzen.
Sie setzte den Weg fort. Irgendwann verlor sie das Zeitgefühl und bewegte sich wie in Trance. Die Realität reduzierte sich auf ihre Füße, die Stufen und das matte, flackernde Licht der Leuchtmodule. Ihre Gedanken trieben dahin. Sie erinnerte sich an ihren Vater, an seine Weisheit, seine Sanftmut. Was sie jetzt unternahm, geschah zu seinen Ehren, denn er hätte sie ebenso unterstützt wie ihre Mutter.
Ein wenig Reue nagte an ihr, als sie an Martis dachte.
Vielleicht hätte sie nicht sofort aufbrechen sollen. Vielleicht wäre es besser gewesen, Zeit mit ihrer Mutter zu verbringen, bis sie sich beide an ein Leben ohne Benaren gewöhnt hatten.
Aber Kes wusste auch, dass Martis stark war, stark genug, um Kes zu drängen, das Geschenk der Freiheit anzunehmen.
Sie wusste nicht, wie lange sie das seltsame Geräusch schon hörte. Sie wurde sich seiner Präsenz nach und nach bewusst, begriff dann, dass es schon seit einer ganzen Weile an ihre Ohren drang. Ein solches Geräusch hatte sie noch nie zuvor vernommen und sie verharrte kurz auf der Treppe, um zu lauschen.
Sie rief sich jene alten Aufzeichnungen ins Gedächtnis zurück, die Beschreibungen über den Weg durchs Innere des Planeten enthielten. Ein solches Geräusch war nirgends erwähnt worden. Aber es existierte zweifellos und wurde umso lauter, je höher sie kletterte. Kes spürte, wie die Anspannung in ihr wuchs.
Und dann erreichte sie das Ende der Treppe. Ein Tunnel schloss sich an, ähnlich beschaffen wie die
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