Schicksalspfade
beginnen.« Er drehte sich um und verließ das Büro, dichtauf gefolgt von Kes. Sie schritten durch den Flur und erreichten kurz darauf ein Zimmer, von dessen Existenz Kes gar nichts gewusst hatte – seine Tür sah aus wie ein Teil der Wand. Und als sie in dem Raum standen… Kes zuckte
zusammen, als er sich plötzlich in Bewegung setzte und nach unten glitt.
Mit überrascht aufgerissenen Augen wandte sie sich Toscat zu.
»Dies ist eine Beförderungskammer«, erklärte der Älteste.
»Die einzige in der Stadt. Sie bringt uns zum Gewölbe.«
Dieses Abenteuer wurde immer faszinierender für Kes. Ein Gewölbe! Tief unter dem Versammlungsgebäude – wer hätte das gedacht? Sie atmete mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen, konnte die prickelnde Aufregung jedoch nicht aus sich vertreiben.
Kurze Zeit später verließen sie die Beförderungskammer und gingen durch einen weiteren, nur matt erhellten Flur, der an einer Wand endete. Dort legte Toscat die Hand auf eine bestimmte Stelle und ein Teil der vermeintlichen Wand schwang auf – eine weitere getarnte Tür. Der Älteste trat durch die Öffnung und bedeutete Kes, ihm zu folgen.
Ein seltsamer Geruch schlug ihr entgegen, eine Muffigkeit, die sie als angenehm empfand. Für sie war es ein
berauschender Duft, das Aroma der Geschichte. Sie sah sich um. Regale zogen sich an den Wänden des Raums entlang, gefüllt mit unterschiedlich großen und dicken Büchern.
Manche wirkten neu und kaum benutzt. Andere waren ganz offensichtlich sehr alt, ihre Einbände rissig. In der Mitte des Zimmers stand ein quadratischer Tisch mit zwei Stühlen, einander genau gegenüber – ein Hinweis darauf, dass sie kaum jemals benutzt wurden. Kes trat sofort zu den Regalen mit den ältesten Büchern.
»Das sind die frühesten Aufzeichnungen«, sagte Toscat ohne Gefühl. Sein neutraler Tonfall verblüffte Kes, die vor Aufregung ganz außer sich war. »Unsere Vorfahren schrieben sie, kurz nachdem der Beschützer die Stadt im Innern der Welt für uns schuf. Über viele Generationen hinweg wurde
niedergeschrieben, was geschah…« Der Älteste schritt von einer Seite des Raums zur anderen, zeigte dabei auf die Bücher. »Bis vor einigen Generationen, als die Geschichten allmählich zu Ende gingen.«
»Soll das heißen… Man hörte auf, die aktuellen Ereignisse niederzuschreiben? Wir haben einen Teil unserer
Vergangenheit verloren?«
Toscat wirkte ungeduldig. »Was hatte es denn für einen Sinn, Aufzeichnungen anzufertigen? Alles blieb unverändert und immer weniger Ocampa konnten lesen und schreiben.« Er drehte sich um und musterte Kes skeptisch. »Ich nehme an, du kannst lesen. Wenn nicht… Niemand wird dir aus diesen Büchern vorlesen.«
Kes schob stolz das Kinn vor. »Natürlich kann ich lesen. Und auch schreiben. Dafür haben meine Eltern gesorgt.«
Toscat gab ein seltsames Geräusch von sich, eine Mischung aus kehligem Brummen und leisem Lachen. Kes wandte sich verärgert ab. »Kann ich jetzt gleich anfangen?«, fragte sie kühl.
Der Älteste zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen. Die Tür verriegelt sich automatisch. Wenn du diesen Ort verlassen möchtest, so musst du Kontakt mit mir aufnehmen.«
»Ich brauche Tage, um all diese Bücher zu lesen.«
»Das dachte ich mir. Ich lasse dir zu essen und zu trinken bringen.«
Er wandte sich zum Gehen und Kes unternahm einen letzten Versuch, diese erstaunliche Erfahrung mit ihm zu teilen.
»Toscat… Waren Sie nicht aufgeregt, als Sie diese Bücher zum ersten Mal gelesen haben? Hat Sie die Lektüre nicht inspiriert?«
Er sah sie mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck an. »Ich habe nie eins dieser alten Bücher gelesen«, sagte er
wegwerfend. »Dazu fehlte mir immer die Zeit. Und außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass es irgendetwas nützt.«
Er drehte sich um und trat durch die Tür, die sich hinter ihm schloss. Kes sah ihm verblüfft nach. Hier, in diesen Regalen, ruhte die Geschichte der Ocampa und Toscat hatte ihr keine Beachtung geschenkt. Mit diesen Leuten war etwas ganz und gar nicht in Ordnung, wenn sie diese kostbare Verbindung mit der Vergangenheit bewusst ignorierten. Kes nahm das erste Buch aus dem obersten Regal in der ältesten Sektion, schlug es auf und setzte dadurch eine kleine Staubwolke frei. Sie trug den Band zum Tisch, nahm Platz und begann hingerissen damit, die erste Seite zu lesen.
»Sie nannten es ›die Erwärmung‹. Die Temperatur stieg immer mehr, bis fast das ganze Wasser auf der
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