Schicksalspfade
Ego brauchte, nachdem Nimembeh ihn zur Schnecke gemacht hatte. Georges Haltung ihm gegenüber erinnerte ihn an seine Familie: Er begegnete ihm mit Anerkennung und Solidarität.
»Ich habe mich umgehört, aber niemand scheint etwas
Genaues zu wissen. Gelegentlich bestimmt Nimembeh ein
›Sonderprogramm‹ für den einen oder anderen Kadetten, doch dabei scheint es keine festen Auswahlkriterien zu geben.«
»Ich schätze, du hast einfach Pech.«
Harry lächelte. Er wusste, dass es Glück war, George als Zimmergenossen bekommen zu haben. Einige der Kadetten, die er kannte, hätten ihn um den Verstand gebracht, aber George und er kamen außerordentlich gut miteinander zurecht.
Mehr noch: Ohne George wäre er wahrscheinlich nicht
imstande gewesen, Nimembehs strenges Regiment zu ertragen.
Es wurde schnell klar, was der Commander von ihm
erwartete: Bestleistungen, bei jeder Gelegenheit und in allen Aspekten seines Kadettenlebens. Er setzte hohe Ziele und verlangte, dass Harry sie erreichte. Für den Fall des Versagens drohten harte Strafen. Nimembeh trieb ihn körperlich und emotional an. Ohne Georges ruhige Präsenz, die ihm immer Beistand gewährte, hätte Harry vielleicht der Versuchung nachgegeben, die Akademie zu verlassen.
Das Ausbildungsprogramm des Commanders war so streng, dass für ein gesellschaftliches Leben kaum Zeit blieb, und deshalb versuchte Harry, alle Gedanken an die weiblichen Kadetten aus sich zu verbannen. Das war nicht leicht, denn an der Akademie gab es hunderte von eifrigen, talentierten und sehr hübschen jungen Frauen. Doch während seiner langer Vorbereitungen auf die Aufnahmeprüfung hatte Harry
Selbstdisziplin gelernt.
»Wer braucht Frauen, solange wir uns haben?«, fragte er George und lachte reumütig.
Es war einfacher und auch angenehmer, einen freien Abend mit George zu verbringen, als eine junge Frau einzuladen, die er kaum kannte, und stundenlang angestrengt zu plaudern.
Wenn er mit George zusammen war, gab es nie Verlegenheit und Gespräche bereiteten überhaupt keine Mühe. Wenn er ein Wochenende frei hatte, um sich nach Hause zu beamen – so etwas geschah selten genug –, begleitete ihn George oft. Für seine Eltern kam er fast einem Adoptivsohn gleich.
Und so war Harry nicht auf das vorbereitet, was an einem windigen Tag im April geschah. San Francisco funkelte wie Kronjuwelen nach einigen Gewittern, die frische, klare Luft hinterließen. Feuchtigkeit glänzte auf Straßen und Gebäuden.
An diesem wundervollen Tag befand sich Harry in einem dunklen, höhlenartigen Gebäude, um dort einer Aufgabe nachzugehen, die praktisch unmöglich zu bewältigen war.
Nimembeh hatte ihn angewiesen, ein Buch zu holen, das nur in gedruckter Form existierte. Harry vertrat die Ansicht, dass alles Lesenswerte in Dateien gespeichert sein sollte, die sich mit einem Handcomputer abrufen ließen, doch Nimembeh
bestand darauf, dass er die viele Jahrhunderte alte Geschichte eines britischen Kapitäns fand, der seine Männer in Sicherheit brachte, nachdem sie von Meuterern in einem Rettungsboot ausgesetzt worden waren.
Alte Bücher genossen Seltenheitswert auf der Erde. Einige passionierte Bibliophile verfügten über Sammlungen, aber sie waren privater Natur und wurden sorgfältig gehütet. In San Francisco kam für Harrys Suche nur ein Ort in Frage: ein großes, mehrstöckiges Gebäude im Embarcadero, ausgestattet mit zahllosen Bücherregalen, in denen tausende von Büchern standen, ungeordnet und von aller Art: Prosa, Geschichte, Kunst usw. – alle nur erdenklichen Themen waren vertreten.
Aber es gab praktisch keine Möglichkeit, ein einzelnes Buch zu lokalisieren. Fröhliche Freiwillige verwalteten das Gebäude und behaupteten, Bücher zu lieben. Tatsächlich lasen sie fast unablässig, doch sie wussten nicht, welche Bücher sich in ihrer Obhut befanden und wie sich ein bestimmtes Exemplar
entdecken ließ.
»Dies ist ein Ort zum Stöbern«, sagte eine dickliche Frau mit kurz geschnittenem weißem Haar und freundlich blickenden grauen Augen. Auf einem rechteckigen Schild an der Brust stand ihr Name: HARRIET. »Es gibt nichts Beruhigenderes, als an den Regalen vorbeizugehen, nach einem beliebigen Buch zu greifen und darin zu lesen.«
»Ja, Ma’am«, sagte Harry ein wenig zu hastig. »Da haben Sie bestimmt Recht. Aber ich muss ein bestimmtes Buch finden.
Gibt es eine solche Möglichkeit?«
Verwirrung zeigte sich in Harriets Zügen. »Charlotte!«, rief sie einer anderen Freiwilligen
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