Schicksalsstürme: Historischer Roman (German Edition)
Frau loszulassen, hatte über allem gestanden, jede weitere Einzelheit ausgelöscht.
»Kann es sein, dass diese Erinnerung in die Zeit gehört, da Ihr schon kein Kind mehr wart, aber auch noch kein Mann?«, fragte Brida unbeirrt weiter.
»Wie kommt Ihr darauf?« Eine kalte Faust griff nach seinem Herzen. Lass sie nicht weiterfragen, hämmerte es in ihm. Lass sie nicht weiterfragen, du wirst es nicht ertragen.
Er wischte den Gedanken fort. Er würde es ertragen. Er musste es ertragen.
»Ihr erzähltet mir von der Trauerfeier im Dom zu Lübeck. Ihr habt die ganze Zeit den Sarg angestarrt. Ihr wusstet, dass er leer war. Warum sollte man eine Trauerfeier um einen leeren Sarg veranstalten und die Tote nicht aufbahren, wie es üblich ist? Dafür gibt es nur eine Erklärung.«
»Nein! Sprecht nicht weiter. Bitte nicht!«
Doch sie hörte nicht auf ihn. »Die Frau, die ertrank, war Eure Mutter. Ihr habt versucht, sie zu retten. Habt mehr gegeben, als ein Mensch geben kann. Mehr, als ein Knabe von dreizehn oder vierzehn Jahren vermag. Es gab keinen Leichnam, denn das Meer hat sie nicht wieder hergegeben.«
Seine Gedanken rasten, irrten hilflos umher. Sein Kopf füllte sich mit weißem Nebel, verschloss das Tor der Erinnerungen und erfüllte ihn mit einer seltsamen Gleichgültigkeit. So, als wäre all das nie geschehen, als hätte er niemals diesen Traum gehabt.
»Was ist mit Euch?« Brida berührte ihn sanft an der Schulter.
»Ich weiß gar nichts mehr«, flüsterte er. »Aber ich glaube, Ihr habt recht.«
»Ihr habt den Schmerz ganz tief in Eurer Seele verschlossen«, sagte sie ebenso leise wie er. »Von Anfang an. Und ich glaube, in der Nacht, als die Smukke Grit unterging und Ihr dem Tod erneut ins Auge blicken musstet, da kehrte der alte Schmerz zurück. Und er war so stark, dass Ihr ihn nur ertragen konntet, indem ihr Euch von all Euren Erinnerungen lossagtet.«
»Ihr meint, deshalb habe ich mein Gedächtnis verloren? Weil ich zu schwach war?«
»Nein, weil Ihr stark genug wart, am Leben bleiben zu wollen. Wenn man um sein Leben kämpft und alle Kraft braucht, darf man sich nicht mit alten Schuldgefühlen belasten, denn sie würden einen töten.«
»Aber wenn Ihr recht habt, dann müsste ich doch inzwischen wieder wissen, wer ich bin. Weil ich meiner Schuld ohnehin niemals davonlaufen konnte.«
»Vielleicht gibt es noch einen anderen Grund«, erklärte Brida. »Einen, der ebenso tief liegt. Einen Grund, den wir in Lübeck erfahren werden.«
Ein schwacher rötlicher Schimmer fiel durch die Ritzen der Fensterläden.
»Seht, die Sonne geht auf!« Brida deutete auf die morgendlichen Strahlen. »Ich mache mich rasch fertig, und das solltet Ihr auch tun. Wir brauchen gewiss drei Stunden, wenn wir Burg Glambeck zu Fuß erreichen wollen.«
Sie mussten nicht zu Fuß gehen. Kalles Nachbarn liehen ihnen einen einfachen Leiterwagen und ein kräftiges Zugpferd.
Hinrich verabschiedete sich von Erik. »Passt gut auf Brida auf, wenn Ihr in Lübeck seid!«, rief er ihm zu.
Erik musterte Hinrich mit einem überraschten Blick.
»Immerhin kenne ich mich dort gut aus«, erklärte Brida mit einem Lächeln. »Und vergesst nicht, die Adela liegt in Lübeck. Cunard kann uns gewiss weiterhelfen.«
Cunard. Also deshalb hatte Hinrich nichts dagegen, dass Brida mitkam. Der alte Kapitän wollte immer noch, dass Brida sich für seinen Nachfolger entschied. Dafür ließ er sie sogar unbesorgt mit ihm zu den Vitalienbrüdern und nach Lübeck reisen. Der Stich traf Erik schmerzhafter, als er erwartet hätte.
»Ich gebe gut auf sie acht«, antwortete er Hinrich.
»Und ich bin ja man auch noch da, ne?«, fügte Kalle hinzu. »Der Brida wird nix widerfahren, da steh’n wir mit’m Leben für.«
Hinrich lachte. »Ich weiß, Kalle.«
»Und du schonst dich, damit du gesund bist, wenn ich wiederkomme«, mahnte Brida und gab ihrem Vater einen Kuss auf die Wange. »Marieke wird auf dich aufpassen, mindestens so gut wie Erik und Kalle auf mich.«
»Solang du ihr nicht aufträgst, sie soll mich am Bett festbinden, geht’s ja.«
Brida lächelte. »Versuch lieber nicht, es herauszufinden, Vater.«
Es wurde wieder ein wunderschöner Tag. Die Maisonne hatte fast schon so viel Kraft wie im Hochsommer. Kalle lenkte den Wagen über schmale Sandwege, die die Felder und Wiesen durchschnitten.
Anfangs fuhren sie nur gelegentlich an einem Haus vorbei, das in seiner Bauart dem von Kalle glich. Je weiter sie sich jedoch der Inselmitte näherten,
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