Schieber
mustert
ihn, abschätzig und misstrauisch, wie Stave findet. Kann sein, dass er Männern
in Jacketts grundsätzlich nicht viel zutraut – kann aber auch sein, dass zwei Gestalten
in derartiger Kleidung diese Barkasse normalerweise nie benutzen würden. Er
blickt den Kapitän nicht an und zieht den Hut noch ein wenig tiefer.
Auf dem Kai stehen die meisten Arbeiter, mit denen sie gerade die
Elbe querten, vor dem Frachter neben der Anlegestelle. »Das sieht nicht so aus
wie das, was Schauerleute normalerweise unter Arbeit verstehen«, zischt Stave.
Sie schlendern näher heran, bis der Oberinspektor den Namen des
Frachters erkennen kann, der in leuchtend goldenen Buchstaben am Heck prangt:
»Presidente Errazuriz«.
»Von dem Schiff habe ich in der Zeit gelesen«,
sagt er. »Das erklärt den Menschenauflauf.« Er verrät nicht, dass auch bei der
Polizei eine interne Mitteilung an alle Beamten darüber herausgegeben worden
ist. »Die ›Presidente Errazuriz‹ ist ein chilenisches Schiff, das gestern Abend
angelegt hat. 39 Offizierskadetten sind an Bord, die zu einem
Deutschland-Besuch angereist sind, zum Missvergnügen von Gouverneur Berry, denn
Deutschland existiert offiziell nicht mehr. Dazu mindestens 200 Tonnen
Lebensmittel, gespendet von ›Freunden Deutschlands‹ in Chile – ich kann mir
vorstellen, wer diese Freunde sind: Nazis, die vor dem Krieg ausgewandert sind,
und solche, die es nach dem Krieg auf dunklen Wegen bis Lateinamerika geschafft
haben.«
Ein Raunen geht durch die Menge. Ein Kran – der einzige, der an
diesem Pier noch intakt ist – hebt vorsichtig etwas aus dem Schiffsbauch, das
der Oberinspektor zunächst für eine Kiste hält. Höher und höher schwebt die
Fracht, bis er erkennt, dass es eine Art großer Käfig mit Holzboden und Latten
ist, ausgepolstert mit Stroh. MacDonald blickt ihn verwundert an.
»Die Chilenen schenken Hagenbecks Tierpark einige exotische Vögel«,
flüstert er. »Und«, er deutet mit dem Kinn auf den Käfig, wo sich irgendetwas bewegt,
das man vom Kai aus nicht erkennen kann, »außerdem vier uralte
Riesenschildkröten.«
»Für Schildkrötensuppe?«
»Hagenbeck ist eine Hamburger Institution.«
»Man muss Prioritäten setzen«, raunt MacDonald und zuckt die
Achseln. »Vor ein paar Wochen verhungerten hier noch Menschen, und sie
importieren Riesenschildkröten für den Zoo. Was fressen diese Biester?«
»Engländer«, zischt Stave. Er deutet auf eine Gruppe von Männern,
die sich so nahe an die Gangway des Frachters drängen, dass die Matrosen, die
davor Wache stehen, nervöse Blicke tauschen. Plötzlich braust ein Jeep heran,
britische Militärpolizei.
»Wenn die mich hier erkennen, dann stecken wir, wie Sie so schön
formulierten, schon wieder bis zum Hals in der Scheiße. Was machen die hier?«
»Sie sollten auch mal die deutschen Zeitungen lesen. In der Zeit stand, dass die ›Presidente Errazuriz‹ auf der Rückfahrt ein paar Deutsche
aufnehmen kann, die Familienangehörige in Chile haben. Jetzt hat halb Hamburg
Auswanderer unter den Vorfahren entdeckt – oder Indios.«
Aus der Menge werden nun tatsächlich einige Brocken Spanisch laut.
Ein Mann hält Papiere in die Höhe und wedelt damit in der flirrenden Luft. Die
Matrosen schwitzen, schütteln die Köpfe. Rufen Unverständliches.
»Da muss man schon sehr verzweifelt sein, wenn man mit dieser Masche
aus der Stadt verschwinden will«, flüstert der Lieutenant. Die
Militärpolizisten springen vom Jeep, der mit kreischenden Reifen hält. Sie
tragen Maschinenpistolen über der Schulter, die Finger am Abzug. Ein paar
Arbeiter pfeifen und johlen, ein oder zwei rufen Verwünschungen, irgendjemand
grölt die »Internationale«.
»Das ist die Gelegenheit«, verkündet Stave. »Verdrücken wir uns!«
Sie schieben sich langsam bis zur Ruine eines Schuppens, die nur
noch aus der Frontmauer und einem Stück vom Dach besteht, dessen Balken in den
Himmel ragen. Im Schatten der Trümmer fallen sie weniger auf. Langsam gehen sie
los, scheinbar in ein Gespräch vertieft wie zwei Männer, die auf dem Weg zu
ihrer Arbeit sind und genau wissen, was sie tun. Das Ende des Schuppens. Das
Skelett eines gestürzten Krans, über das sie vorsichtig klettern. Eine
gepflasterte, freie Fläche, ofenheiß. Gleise, zwischen denen Büsche mannshoch
wuchern, weil hier seit Jahren keine Bahn mehr fährt. Das Ende des Kuhwerder
Hafenbeckens. Ein Schwenk nach links – nun verdeckt der Frachter die Sicht vom
Kai bis zu ihrer
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